„Ich versuche Bilder zu machen,“ sagt Jörg
Sasse, „vor denen ich selbst erstaune.“ Dieses
Erstaunen, dem Dämon der Interpretation anzuvertrauen, wird so
zur Aufgabe jeder Betrachtung. Die Werke von Jörg Sasse aus
den letzten zwanzig Jahren, ihre Konstanten und Differenzen zu
beschreiben, in den Blick zu nehmen, erfordert zweifellos die genaue
Betrachtung der Einzelwerke – ohne ihnen vorschnell
thematische Parallelen oder Gegensätze bescheinigen zu wollen.
Jedes Bild als autonomes Werk und Teil seines
Œuvres zu sehen, bedeutet auch das Sehen selbst einer solchen
Spannung auszusetzen.
Dies kann mit der Unterscheidung zwischen wiedererkennendem
Sehen und sehendem Sehen, wie sie Max
Imdahl für die ikonische Bildanalyse gefordert hat, begriffen
werden. Sehendes Sehen bedeutet, sich über den Akt des
identifizierenden also wiedererkennenden Sehens (Sujet, Ikonographie)
hinaus, das Bild in einer Gestaltung des eigenen Sehens eben derart
anzueignen, daß die nur in ihm innewohnenden
Ausdrucksmöglichkeiten erkannt werden. Einer Gestaltung, die
nicht allein die visuellen Bilddaten und ihre
Sichtbarkeitsgegebenheiten einschließt, sondern diese eben
auch übertrifft. Das Bild besitzt damit erst die
Unersetzbarkeit einer besonderen, einer anderen Erkenntnisweise, die
freilich festzustellen und zu beschreiben der Sprache
naturgemäß immer nahegelegt werden wird.
„Erst in der Betrachtung wird das
‚Unsichtbare‘ hinzugefügt“, wie
Jörg Sasse selbst einmal schrieb. Eben dieses Unsichtbare im
Sichtbaren zu sehen und damit zu erkennen, was nur das Bild vermag
bereitzuhalten, ist von der Betrachtung künstlerischer Werke
zu fordern. Glücklich mag von dieser Position erscheinen, wenn
die einmalige bildnerische Leistung zurückschlägt in
die von ihr notwendig mitgetragenen Reste der Realität und
transitorische Identitäten stiften kann. Ein
Phänomen, das Jörg Sasse so kennzeichnet:
„Was mich interessiert ist der Punkt, an dem sich das
autonome Bild an der Wand mit dem Verweis auf die gewonnene
Wirklichkeit trifft.“
Die frühen Schwarz/Weiß-Fotografien Sasses, vor und
während der Akademiezeit, zeigen Dachkonstruktionen,
Industrieräume oder
Architekturen, wie etwa die Ansichten des
Campus der Ruhr-Universität Bochum vom benachbarten
Uni-Center aus, deren genaue
kompositionelle Anordnung wie räumliche Strukturierung auf die
Erfassung bildnerischer Elemente in der Wirklichkeit versuchen:
überdachungen, Wege und die
‚Türme‘ im Hintergrund, ihre Pfeiler- und
Brüstungsverläufe sind in einem genauen System von
überlagerung und geringer Abweichung zur Erweiterung der
bildnerischen Dynamik angelegt. Jede räumliche Formation wird
durch kreuzende oder überführende
Flächenkonstruktionen aufgebrochen und dadurch gesteigert.
In ihrer konzeptuellen Beschränkung auf wenige Sujets sollte
ein Höchstmaß an ‚Erarbeitung‘
von bildnerischen Strukturen erreicht werden. Bereits in seiner
Düsseldorfer Akademiezeit hatte Sasse versucht, sich
über räumliche Phänomene mit ganz
elementaren Experimenten Klarheit zu verschaffen, so etwa in Form der
Gipsabgüsse von Raumecken oder der einwöchigen
Beobachtung eines Durchgangsraums: Sasse stand in dieser Zeit
(1983) permanent an einer Stelle des Akademieflures und registrierte
die sich verändernden räumlichen und bildnerischen
Situationen. Es sollten Basiserfahrungen von räumlichen
Situation gewonnen werden, um etwa die einzigartige Dynamik von
Wänden und Ecken aufzuspüren.
In ihnen lag schon, die auch späterhin immer wieder
anzutreffende Reduktionen an gegenständlichen
Bezügen, wie etwa in den Vorhang-Bildern oder Wandaufnahmen.
Reduktionen am gegenständlichen Sujet, die Sasse selbst immer
auch an Bildern, wie etwa von Henri Matisse, wie Porte-fenêtre
à Collioure oder Le Rideau jaune
beeindruckt haben.
In der Reihe seiner Schaufensterbilder, die ebenfalls
noch
als Schwarz/Weiß-Fotografien konzipiert wurden, sind diese
räumlichen Untersuchungen, wie in 81-120-6-3
in eine vielschichtige Ineinandersetzung von Bildebenen,
Spiegelungen und überblendungen überführt
worden. Die ‚Zufälligkeit‘ etwa
vorüberziehender Passanten – als Indiz der
Momentfotografie – wurde mit dem bewußten und
geduldigen Abwarten einer ‚nur so gewollten‘
Darstellung bereits unterlaufen.
Vergleicht man nun diese frühen Fotografien mit
späteren – aber noch nicht digital bearbeiteten
– wie der Kachelecke P-91-06-05, Köln 1991,
so wird die bildnerische Tendenz deutlich. Der
weiß gekachelte Vorsprung fügt sich in seinen
Parallelen deutlich in das Format des Bildes ein; rechter Winkel,
Unter- und Oberkanten schließen
gleichmäßig mit den Rändern ab. Dennoch ist
gerade durch die überlagerung der Vorderansicht des Vorsprungs
mit der Bildebene eine perspektivisch in der Realität so nicht
zu erlangende planimetrische Konstruktion erreicht worden. Die schiefe
‚Ebene‘ im Hintergrund erreicht am linken Bildrand
eine Höhe, wie sie spiegelsymmetrisch der linken Kante des
Fliesenvorsprungs entspricht. Die vorderen zwei Fliesenreihen mit ihren
Fugen verlaufen exakt parallel zu den Waagerechten und Senkrechten des
Bildes – ihre Oberseite dagegen fluchtet nach rechts,
obgleich der Vorsprung selber, rein optisch, nach links unten zu
verlaufen scheint! Einzig die Fuge direkt vor dem inneren rechten
Winkel verläuft auf der Vorder- und Oberseite vollkommen
lotrecht: aber dies nun wiederum an einem Punkt, wo die
‚Dynamik‘ der ‚Bewegungen‘ im
Bild am stärksten ist. Diese imaginäre Linie ist wie
das ruhige Auge des äußeren
‚räumlichen Sturms‘. Der linke Freiraum
erhöht darüber hinaus die kompositorische Spannung
– und fügt sich doch, von den Rändern her
betrachtet, einem perfekten horizontalen Aufbau des Bildes. So bricht
der Blick aus der scheinbar einfachen Konstruktion förmlich
auf und überführt die räumliche
Mehransichtigkeit in ein neues bildlogisches System.
II
Einen besonderen Raum in seinem Werk nehmen die weitgehend unbekannten
farbigen Stilleben
aus den Jahren 1984/85 ein.
Es sind hochartifizielle Arrangements: vor einem starken farbigen Hintergrund mit klassischer
Hohlkehle werden alltäglichste Gegenstände in
räumlich sehr differenzierender beziehungsweise
‚auflösender‘ Weise wiedergegeben: zwei
hochstehende Klammern vor gelbem Hintergrund (St-84-12-06),
eine umgedrehte Kanne (St-84-12-26), ein blaues Band
mit umgeknicktem Film (St-84-12-06) oder ein Schwamm
auf weißen Klammern (St-85-01-06).
Nicht allein das die Gegenstände im Sehen andere, skulpturale
Eigenschaften annehmen, ja faktisch auch einen anderen Gegenstand
‚mit-meinen‘ können –
Vögel oder Flugzeuge, einen weißen Elefanten, einen
Fluß mit Brücke oder einen rosa Marmortisch
–, sie sind auch eingebunden in ein Netz präziser
planimetrischer Ordnungen. über das faktische Erkennen hinaus,
wird hier abermals ein sehendes Sehen gefordert, das in der Erkenntnis
des innerbildlichen Zusammenhanges, dem Spiel aus Räumlichkeit
und Flächigkeit, banalem Gegenstand und kalkulierter
Präsentation (und dem genannten Wechselspiel der
Identifizierungen), der Fotografie eine neue bildnerische Potenz
verleiht. In diesen Fotografien ist gleichsam die Bildbearbeitung der
späteren computermanipulierten Werke in der
Künstlichkeit der Inszenierung vorweggenommen worden.
Innerhalb seiner bekannten Fotografien von
Innenräumen
in den 80er und 90er Jahren ist das Werk W-90-12-04,
Bad Salzuflen 1990 von besonderem Interesse,
da hier über den Innenraum eine Verbindung zur Landschaft
– und im Wechselspiel zwischen Fototapete und Tisch mit Stuhl
– das Medium der Fotografie mit thematisiert wird. Der
sentimentale Sonnenuntergang der Fototapete wird durch den Ausschnitt
fast real ‚zitiert‘ – und gleichzeitig im
farblich korrespondierenden Tischtuch
‚künstlich‘ wieder aufgenommen. Einzig in
der hellen Lücke links wurde die Illusion hart durchbrochen.
Dennoch ist auch diese ‚farblich‘ notwendig, um die
sehr dunkle Zone des Baumes und des perfekt überlagerten
Stuhles zu kontrastieren. Hinzukommt, daß die Rippen der
Stuhlehne, die den Blick vor die ‚Landschaft‘
eigentlich versperren, helle Lichter aufweisen – als seien
sie von der Sonne in ihrem Rücken beschienen.

Die nicht sichtbare Sonne der Fototapete ‚scheint‘
förmlich über das banale Muster der Tischdecke
weiterzuleuchten. Wie die Tapete, so ist auch die Tischdecke eine
‚Amateurkunstoberfläche‘ und zeigt damit
auch die reziproke Tendenz im späteren Werk Sasses,
vorzugsweise Amateurfotos als Ausgangsmaterial zu verwenden.
Das zentrale Blütenmuster der Tischdecke steht planimetrisch
exakt auf der Linie der Sonnenreflexionen. Die innere geometrische
Einfassung im Muster des Tischtuchs reicht optisch genau bis zur
verlängerten Linie des Baumes links und der
äußersten Rippe der Stuhllehne. Eine solche
‚Verspannung‘ von aufgenommener, gespiegelter und
inszenierter Realität, von ‚Innen‘ und
‚Außen‘ erzeugt ein Bild von
höchst divergenten ‚Ansichten‘.
über den nicht zu fassenden Gegenstand verdichten sich in den
‚Ansichten‘ zu einem so nie zu zuvor gesehen Bild.
III
Seit Beginn der 90er Jahre arbeitet Jörg Sasse, wie bereits
erwähnt, mit
computermanipulierten Fotografien. Die Vorlagen
hierfür stammen meist von fremden Fotografen oder dem eigenem
Archiv. Der digitale Eingriff ist für die ästhetische
Wirklichkeit des authentischen Bildes nachgerade konstituierend, in
bezug auf die bildnerische Erscheinung aber kaum je sichtbar, jeder
technische ‚Effekt‘ in dieser Hinsicht bleibt
bewußt aus. So ist die umfassende Kenntnis seiner Eingriffe
so faszinierend wie irrelevant für den Betrachter.
Die private Amateurfotografie nun ist aber authentisch nur in ihrem
Genre selbst, zur Wirklichkeit ihrer Absichten unterhält sie
ebenso kein verbindliches Verhältnis wie zur
künstlerischen Produktion. In den Bildern Jörg
Sasses, die sich auf diese Amateuraufnahmen stützen, sehen wir
noch durch das Bild hindurch auf jenen sentimentalen Rest des ehemals
Gemeinten, auch und gerade dann, wenn das Bild eine
überwältigende Irritation, ein so nie Gesehenes
auslöst.
Es ist diese antinomische Präsenz, die die Gestaltung der
Interpretation erst ermöglicht. Insofern stellen seine in den
letzten Jahren entstanden computermanipulierten Bilder, wie im Kontext
des Werkes W-90-12-04, Bad Salzuflen 1990 bereits
angedeutet wurde, eine logische Fortentwicklung der früheren
Interieur- und Architekturaufnahmen dar. Denn dort versuchte Sasse
gerade selbst, das Sentimentalisch-Alltägliche in
hochartifizielle Kompositionen zu überführen.
Auch in der neueren Titelgebung, vierstellige Zahlen, die um das
Entstehungsjahr ergänzt werden, ist ein Reflex auf Ordnung und
Offenheit der Kunst selbst gegeben. Die Zahlen erscheinen wie
fortlaufende Werkverzeichnisnummern, werden jedoch für jedes
Werk durch einen Zufallsgenerator erzeugt. Ihre numerische
Höhe beziehungsweise Wertigkeit besagt demnach nichts
über eine Entwicklung oder eine Reihe im Werk. Es sind
autonome Gebilde, wie die Werke, die sie bezeichnen. In ihnen spiegelt
sich natürlich auch die Zurückweisung des
bloß identifizierenden Sehens – ohne eben die
Einmaligkeit des Werkes durch reine Namensverweigerung
einzuschränken. Der Zusammenhang zu den früheren
Arbeiten ist aber auch oberflächlich vergleichsweise leicht
herzustellen, faßt doch Sasse seine Arbeiten in ein
beständig erweiterndes System von allgemeinen Kategorien. Auf
seinen Internetseiten werden nämlich die Bilder
unter anderem nach verschiedenen
Kategorien geordnet. Mittlerweile sind
es über 60 Kategorien, die er sowohl nach
begrifflich-abstrakten überlegungen, als auch nach
verschiedenen Farben und Sujets aufgestellt. überschneidungen
und somit mehrfache Auflistungen sind damit eingeschlossen und
natürlich gewollt. Hier finden sich zum Beispiel unter dem
Stichwort
Paare – das heißt Bilder mit zwei
gleichen oder ähnlichen Figurationen – die
unterschiedlichsten Werke aus nahezu zwanzig Jahren wieder.
Die ‚Befreiung‘ von den konzeptionell strengen
Interieur- und Architekturbilder der 80er Jahre, setzte somit
einerseits der Wahl seiner Sujets, seines
‚Ausgangsmaterials‘ keine Grenzen mehr,
erhöhte jedoch gleichzeitig das Risiko der
‚Fallhöhe‘ in jedem Bild neu.
Die Landschaft 8608, 1996 ist
wiederum in ihrer Komposition außergewöhnlich
präzise, nach scheinbar ‚klassischen‘
Vorstellungen angelegt. So liegt der Beginn der Höhe des
hinteren Gebirgszuges auf der linken Seite nur wenig über der
Bildmitte, seine kleine Senkung korrespondiert mit der Senkung der
Wiese davor. Der vordere Höhenzug endet oben rechts
– kurz vor der Bildecke. Die helle Brücke im unteren
Bereich beginnt nur wenig neben der Mittelsenkrechten. Der sie
umschließende Baumbestand rechts korrespondiert mit dem
Baumbestand links. Durch diese zunächst klare und einfache
Komposition erstellt sich dennoch ein höchst komplexes Bild.
Denn im linken Bildteil sind in der Staffelung von unterer Wiese,
hellem Gebirgszug und Himmel drei räumlich klare
differenzierte Bereiche zu erkennen. Diese sind aber, allein vom linken
Bildrand aus betrachtet, sowohl fern wie beziehungslos. Folgt der Blick
nun weiter in den rechten Bildbereich, so tritt die Landschaft näher
heran – aber durch den stark ansteigenden Gebirgszug vorn verschließt
sich diese Ansicht auch wieder. Das bedeutet, daß die
optische Nähe der Landschaft auch ihr
‚Entschwinden‘ erzeugt – ihre Ferne
dagegen paradoxerweise eine Präzisierung. Einzig die
‚kleine Brücke‘ im unteren Bereich steht
als ‚Reflexionsfigur‘ für die reale Ferne
(denn ‚in Wirklichkeit‘ muß sie sehr
groß sein) – zumal sie optisch auf der
Höhe des hinteren ‚verschwindenden‘
Gebirgszuges und Himmels steht. Nähe und Ferne vertauschen
sich hier ununterscheidbar und beständig im Blick. Die
Talbrücke steht so fern, gleichwohl ihre Stellung im vorderen
Bildbereich eine größtmögliche
Nähe einschlösse. Die nachgerade
‚klassische Landschaft‘ erweist sich damit im
Hinblick auf ihre ‚Bewältigung‘ als
äußerst tückisch; in ihr wird das
Selbstverständliche zur beständigen Neuentdeckung des
Unselbstverständlichen der Landschaft.
Das riesige Haus am Meer in Ostende 5671, 1996
beruht, wie die meisten Bilder der neunziger Jahre,
ebenfalls auf einer fremden Vorlage. Von der fotografischen Vorlage
wurden zwei davorstehende Frauen entfernt, das Haus selbst in der
weiteren Bildbearbeitung ‚auseinander- und gerade‘
gezogen, der Nebel davor präzisiert und insbesondere an der
linken Schmalseite noch ‚Lichter‘ und eine leichte
Perspektive gesetzt. Dieses Minimum an Tiefe löst allein die
fast flächige Konstruktion auf. Auch ist die Dachhöhe
des Gebäudes ein wenig nach oben links verschoben. Der Nebel
reicht genau bis auf die Höhe einer gedachten Bildmitte. Der
dunkle Streifen zwischen dem Nebel und dem Sand verläuft exakt
spiegelsymmetrisch zur beschrieben Dachkante des Gebäudes nach
unten links – damit ist das Bild in nahezu vier
gleichgroße parallele Bildzonen unterteilt. über die
so erreichte ‚harmonische‘ Plazierung des
Gebäudes hinaus – seinen schwebenden Charakter, der
das Fundament im Nebel verschwinden läßt –
scheint sich das Gebäude jeder Annäherung zu
entziehen. Wurden in den frühen Farbaufnahmen aus den Jahren
1984/85, wie zum Beispiel der rosa Schwamm St-85-01-06
nach Regeln der klassischen Architekturfotografie
aufgenommen und entzogen sich damit seinem Sujet, so entzieht sich
nunmehr andererseits die abgelichtete
‚Wohnmaschine‘ ihrer vormaligen
‚Realität‘.
In der bereits beschriebenen Kachelecke P-91-06-05,
Köln 1991 wurde die perspektivischen
Irritationen in eine Bildform überführt, die aus
ihrem statischen Sujet und dem scheinbar statischen Aufbau, ein
Höchstmaß an ‚Bewegung‘ und
‚Räumlichkeit‘ in scheinbarer
‚Klarheit‘ und ‚Ruhe‘ bewirkt;
dies wird nun ganz ähnlich im Gerstenfeld 6478, 2000
–
mit Mitteln der Farbe – erreicht.
Ohne Frage nimmt allein die Größe des Bildes (123 x
200 cm) den Betrachter sogleich ein; die Unschärfe in der
Darstellung und ihre all-over-Struktur tragen
weiter dazu bei, den Blick vollständig
‚einzunehmen‘, förmlich anzuziehen und zu
irritieren. Selbst jene kleinen ‚Begrenzungen‘, wie
die dunklen Stellen am rechten und linken Bildrand, geben sich leicht
als Helfer dieser Strategie zu erkennen, da sie sich exakt oberhalb
(links) und unterhalb (rechts) der Bildmitte befinden und mit dieser
‚Schräge‘ nur weiter den Betrachter
‚vexieren‘. Bei näherer Betrachtung
erweist sich aber die Farbgebung sicher als der eigentliche
Auslöser dieses ‚umwerfenden‘ Prozesses:
Es ist nämlich nicht zu entscheiden, ob man auf ein
grünes oder ein gelbes Feld schaut. Die Farben des Feldes
– ‚rechnerisch‘ neu verbunden –
setzen sich weitgehend der momentanen, subjektiven
Einschätzung des Betrachters aus und überfordern
damit bewußt seine identifizierende Betrachtung! Die leichte
Fluchtung nach hinten suggeriert ohnehin ein Stehen des Betrachters in
dem Feld – das sich vor seinen Augen buchstäblich zu
‚drehen‘ und
‚aufzulösen‘ scheint. Selbst das
hervorgehobene Weiß der schrägen ähren
– räumlich davon beinah abgesetzt –
verschleiert sich im Kontext des Feldes. Schlagartig erweist sich diese
‚Offenheit‘ des Bildes gegenüber dem
Betrachter als Strategie, zu einem neuen ‚Sehen seines
Sehens‘ zu kommen.
Diese Aufspaltung des Blicks wird in dem
Werk 2268, 2001 nun noch besonders
betont: Schmale blaue und giftgrüne Farbstreifen (Halme?) sind
vor einem undefinierbaren Hintergrund ‚irreal‘
gegeneinandergefügt. Nicht allein, daß der
Farbkontrast den realen Bezug verloren hat, auch schwankt der Blick
zwischen Schärfe und Unschärfe der Farbstrukturen. Es
ist schlechterdings nicht zu entscheiden welches räumliches
und damit auch ‚tiefenschärfliches‘
Verhältnis die Farben unterhalten. Da die Strukturen
über das ganze Bild ohne erkennbare Akzente verteilt sind,
schwankt der Blick beständig zwischen deren Lösung
als Gegenstand und Auflösung als Abstraktion.
Das nächtliche Streifenbild 8298, 2000
ist
ebenfalls eine Arbeit, in der es, wie immer bei Sasse, eine Referenz
zur fotografischen Realität gibt, die sich jedoch bei
näherer Betrachtung genau dieser Dimension zu entziehen
versucht. Die zahlreichen Lichtstreifen erinnern an länger
belichtete nächtliche Fotografien, in denen sich der
Zeitverlauf als Lichtbahn auf dem Film niederschlug. Im Hintergrund
sind großflächigere, unscharfe Lichterbahnen zu
erkennen, die von einer unruhigen Kamerabewegung herrühren
könnten. Eine solche Erinnerung an Nachtaufnahmen wird nun in
ein nahezu abstraktes Bild verwandelt. Die helle Lichtbahn unten links
korrespondiert mit dem dichten Bündel an Lichterstreifen oben
rechts. Ein Streifen links, nur wenig unterhalb der Bildmitte, ist
unterbrochen; ein einzelner blauer verläuft in der oberen
Bildmitte. Die verschiedenen ‚Gruppen‘ der
Lichtstreifen liegen jeweils vor den genannten
breiteren Lichtbahnen im
Hintergrund. Obwohl nun das ‚Zentrum‘ aller
Streifen weitgehend im oberen rechten Viertel des Bildes liegt
– was auf den ersten Blick keineswegs klar zu sein scheint!
–, wird diese Gewichtung durch die erwähnte
Lichtbahn unten links und die einzelnen Streifen am linken Bildrand und
dem fast schwarzen unteren rechten Viertel, kontrastierend aufgehoben.
Betrachtet man im oberen Bereich die Lichter genauer, so scheinen ihre
Farbigkeit und Begrenzungen keinesfalls mehr
‚natürlichen‘, das heißt in
diesem Falle ‚fotografischen‘ Ursprungs zu sein.
Der abrupte ‚Beginn‘ des blauen Streifens etwa,
suggeriert eine Bewegung von rechts nach links, während sich
die parallelen hellgelben Streifen eher von links nach rechts
‚gezogen‘ zu sein. überdies ist ihre
Kombination auf eine ‚graphische‘ Perfek-tion
angelegt, die der sonstigen Zufälligkeit einer Nachtaufnahme
widerspricht. Hierzu gehören auch die farbigen
Unschärfen im Hintergrund, die noch eine reale Situation, wie
etwa eine Straße anzuspielen scheinen – ohne diese
jedoch einlösen zu wollen. Dem kalkulierten Bildaufbau ist so
jede Zufälligkeit der ‚Szene‘ entzogen
worden. überführt in das System eines – so
nie gesehenen! – beinah gegenstandslosen Bildes, schimmert
nur noch ein Rest von Nacht und Licht durch.
In einem neueren Nachtbild 5891, 2001 ist dies um
scheinbar echte
Farbverläufe vor dem fotografierten Abbild
erweitert worden.
Das Bild ist streng geteilt. Die beiden oberen horizontalen Viertel
zeigen jeweils einen dunklen Streifen und eine Zone mit den hellen
Lichtern der Nacht, die sich teilweise in ‚pastose
Farbschlieren‘ verwandeln. Sie werden durch angedeutete
Reflexionen im unteren Bereich unscharf gespiegelt – eine
Spiegelung, die realiter aber kaum einzulösen ist, da sich
hier weiße und blaue Lichter unwirklich
gegenüber-stehen. Zudem sind durch die dünnen, beinah
linienförmigen Farbspuren (wie
‚drip-pings‘) jede Beziehungen zur Wirklichkeit
eines fotografischen Abbildes aufgehoben worden. Eine
‚Bewältigung‘ im Sinne einer
Wiedererkennung ist damit nicht zu errei-chen. Allein die Betrachtung
des oberen rechten Teils, mit seinem irrealen Hinter-grundlicht, den
gelben Farben links, den weißen rechts, kann weder mit
Begriffen der Fotografie noch der Malerei beschrieben werden. Es sind
neue Valeurs, die erst mit den Mitteln der modernen Bildbearbeitung
möglich wurden – ohne dabei eine fremde
Künstlichkeit zu betonen.
Die ferne Aufnahme vom Rande eines Kirmesplatzes mit Mauer und
Karussell 8246, 2001 ist von Sasse selbst in der
Dämmerung aufgenommen worden. Die ursprüngliche
Aufnahme zeigt die Mauer noch nach links offenen mit weiteren
Einblicken auf die Umgebung des Platzes. Sasse verlängerte am
Rechner die Mauer, ‚begradigte‘ sie im Hinblick auf
die Bildkanten und zog damit – wie so häufig in
seinen Bildern – eine durchgehende horizontale Parallele.
Durch die hinzugefügten farblichen Differenzierungen kommt nun
eine ‚irreale‘ Situation zustande: Die Lichter des
Karussells weisen auf einen Abend beziehungsweise eine
Dämmerung hin (im Ausgangsfoto noch deutlicher abzulesen)
– Mauer und Himmel deuten dagegen auf einen lichten Tag.
Zudem ist durch den Gegensatz der verschwimmenden, unscharfen
Rotationen des Fahrgeschäfts zu den scharfen, klaren Formen
der Mauer eine weitere Differenz gesetzt – gleichwohl in den
Farben des Karussells die Farben der Mauer wieder auftauchen. Die
exzentrische Positionierung des Karussells ist durch seine optisch von
rechts aufsteigende Diagonale im Bild wieder aufgefangen worden. Der
‚leere‘ linke Bildteil, dem vornehmlich der
Eingriff Sasses galt, den er erst ‚freilegte‘, wird
auf diese Weise mit der ganzen Spannung der Karussell/Mauerverbindung
aufgeladen. So ‚faßbar‘ die Szene im
Hinblick auf ‚die Realität‘ scheint, so
‚unfaßlich‘ bleibt sie bei
nähere Betrachtung. Wie ein Schlag vor die Pforten unserer
Wahrnehmung, verschiebt das Bild unsere bewußt geglaubte
Realität.
IV
Damit wird die vergleichsweise ‚altmeisterliche‘
Arbeit Sasses deutlich. Seine Eingriffe dienen keinem bloßen
technischen Effekt oder dem Erfinden virtueller Welten, sondern
Präzisieren die der vorgefundenen Fotografie innewohnenden
Möglichkeiten einer umfassenden Bildpräsenz.
Gerade die Hervorhebung des roten Hauses in 8626, 1999
gegenüber der mattgrünen Landschaft, nimmt dem
banalen Motiv jede Selbstverständlichkeit, da nunmehr das
lichte Haus nicht mehr dem gewohnten Tag zuzugehören scheint.
Die Zweige und Bäume werden in ihren
Größenverhältnissen unklar, die Landschaft
unwirklich: Das Haus ist damit nur Teil einer
‚Gesamthervorhebung‘ des Bildes bei der –
wie in den anderen Werken auch – die spezielle Montierung
hilft, das Bild wie in einem selbstentzündeten Leuchtkasten
schillern zu lassen.
Für den Förderkreis für
Gegenwartskunst der Kunsthalle Bremen schuf Sasse im Jahre
2001 nun
erstmals eine Edition bei der er sich nicht auf Amateur- oder eigene
Fotografien stützte, sondern auf ein älteres
Gemälde. Waren schon in P-93-07-04,
Düsseldorf 1993
Teile eines Bildes von Roy Lichtenstein mit
eingeflossen (und hatten die ‚reale
Ausstellungssituation‘ in ein ‚abstraktes
Bild‘ verwandelt) oder konnten Ausschnitte aus der
gegenständlichen Welt, wie in 2981, 2000
der
Triebwagen eines Zuges, die Illusion an ein gegenstandsloses Bilder
erzeugen,
so übernahm Sasse hier die bereits digital
vorliegenden Bilddaten des Gemäldes Landschaft bei
Cava dei
Tirreni von Jakob Philipp Hackert aus der Sammlung
der
Kunsthalle Bremen.
Dabei verwandte er nur einen Ausschnitt aus dem Gemälde
(vornehmlich den linken Teil) und entfernte teilweise Häuser,
Bäume und Tiere. Die im Original zu sehenden
Frühschwundrisse des Gemäldes schloß er
‚optisch‘ ganz, so daß die homogene
Flächigkeit der Bildzonen wieder betont wurden. Diese
Eingriffe erzeugten das überraschende Resultat, das
durch das
‚Gemälde‘ hindurch, ein fotografischer
Schein im neuen Bild präsent wurde. Rückte Sasse also
bei der Bearbeitung fotografischer Vorlagen bewußt von deren
‚physischen‘ Ursprung ab, so holt er im gemalten
Bild, dessen fotografische Dimension als neue Präsenz
zurück.
Die natürliche Fälschung
der Welt in ein neues Werk
der Wahrheit, welche die Künste immer auszeichneten, hat in
den computermanipulierten Arbeiten von Jörg Sasse eine neue
Dimension erreicht. Die technische Bearbeitung mag jenen magischen Wert
beschwören, den einst die ersten Tafelbilder
besaßen – die Präsenz seiner Bilder wird
von der eingehenden Betrachtung des einzelnen Werkes getragen. |