Jörg Sasse - Texte
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Dokumentarfotografie

Ein Interview von Andreas Schalhorn mit Jörg Sasse anlässlich eines Symposiums der Wüstenrotstiftung zur Dokumentarfotografie im September 2002 in Köln

Andreas Schalhorn: Dokumentarfotografie, was können Sie mit diesem Begriff anfangen, welche Perspektive hat er für Sie? Ist es ein Begriff, der Sie unabhängig von Ihrer Arbeit interessiert, einfach als Künstler, als Fotograf, der Bilder herstellt?

Jörg Sasse: Die Vorträge und Diskussionen des heutigen Tages kreisen um den Begriff der Dokumentarfotografie, gehen aber nie genau darauf zu. Er kann vielleicht noch irgendwas bedeuten, aber tatsächlich glaubt es keiner mehr. Der Begriff kann nicht mehr mit Wirklichkeit ausgefüllt werden, und ich würde deshalb vorschlagen, sich diesem Begriff vom fotografischen Ergebnis ausgehend zu nähern.
Das fotografische Ergebnis ist zunächst einmal nur das Dokument seiner selbst, und alles, was wir darauf sehen, ist immer ein Abgleich mit unserem Vorgewussten oder Vorgesehenen. Das hei?t, das, was wir darin entdecken, ist eigentlich immer auch die Projektion von dem, was wir darin sehen wollen.

AS: Sie verlangen also, den ganzen Begriff von der Abbildung der Au?enwirklichkeit in die Beschäftigung mit dem Bild selber als Medium einer Produktion, aber auch der Rezeption mitzudenken. Das hei?t also, abgespeicherte Bilder werden auf neue Bilder angewendet. Kann man sagen, dass es Ihnen um diese Wechselwirkungen geht?

JS: Es geht nicht unbedingt um das vorsätzliche Abspeichern, sondern es handelt sich um die Summe all dessen, was man gesehen hat. Auffällig war heute auch die häufig thematisierte Text-Bildverbindung, was eigentlich bedeutet, dass eine Verbindung auch im Verbalen zu dem Visuellen geschaffen wird. Ich wünsche mir, dass ein bisschen mehr Gewicht auf das Visuelle selbst gelegt wird. Darin vermute ich ein sehr gro?es Potenzial.
Oft dient die Fotografie als Bestätigung: einmal im Amateurbereich als Dokument der eigenen Geschichte, aber oft auch als Bestätigung im illustrativen Sinne wie z. B. die Illustration einer Reportage. Wichtig wäre mir herauszufinden, welche die bleibenden Bilder sind, die nicht nur durch einen Megakontext aussagekräftig werden, beispielsweise das Ereignis vom 11. September 2001, das so unerhört war, dass es wohl jedes Bild für sich zur Ikone werden lassen könnte.
Wenn ich versuche zu sehen, welche Bilder ein Potenzial haben, das sie überleben lässt, dann sind es oft jene, die irgendetwas Visuelles haben - das sage ich jetzt extra so vage - etwas, das im nichtsprachlichen Bereich liegt. Daher ist es vielleicht sinnvoll, einmal den Versuch zu machen, das Text-Bildverhältnis zu trennen und wirklich nur aufs Bild zu schauen, um dann zu der Frage zu kommen, welche 'dokumentarische' Leistung kann ein fotografisches Bild tatsächlich bringen. Möglicherweise würde das auch den Begriff Dokumentarfotografie sehr viel weiter öffnen.

AS: Gibt es generell eine Art höhere Gewalt für den Begriff des Dokumentarischen? Nehmen wir beispielsweise die Arbeit von Stefan Eikermann, die Bilder parallel zu einem fiktionalen Text setzt. Die Erzählung entwickelt sich also gleichzeitig auf der Bild- und der Textebene. Würden Sie dazu tendieren, dass man diese Strukturen aufgibt und sich allein auf die Kraft des einen Bildes verlässt?

JS: Das ist schön, dass Sie ein Beispiel nennen, das jetzt hier im Hause zu sehen ist, denn eigentlich müsste man als Erstes hingehen und nachfragen, in welchem Format bewegen wir uns, welches Verhältnis haben die Bilder zum Text, wie ist die Installation, weil das alles sich ganz anders zeigt, wenn Sie es jetzt mit Worten beschreiben. Das Text-Bildverhältnis ist in dem Fall sehr zurückgenommen, ich bin nicht sicher, ob die Arbeit den Text braucht. Ich muss gestehen, ich habe den Text nicht gelesen, ich habe die Bilder verfolgt. Meiner Meinung nach sind viele von den Bildern stark genug, um den Raum aufzumachen, der sich vielleicht im Text auch spiegelt, das kann ich nicht genau sagen. Aber ich meine, dass der Text zumindest so zurückgenommen ist, dass der Focus auf den Bildern liegt.

AS: Ein Begriff, der bei Ihnen oft auftaucht, ist der Begriff des Kontextes, in den Bilder gesetzt werden. Einerseits entstehen Arbeiten für die gro?en Journale, andererseits werden sie im Museum gezeigt und gefeiert. Dieser Begriff des Kontextes meint dann aber auch die räumliche Präsentation, das hei?t die Präsentationsform. Können Sie zum Zusammenhang von Bildaussage und Bildpräsenz unter der Prämisse eines wechselnden Kontextes einige Anmerkungen machen?

JS: Mir fällt als Beispiel der Vergleich zwischen einem reproduzierten Gemälde von van Gogh und dem ersten Original-van Gogh, den ich gesehen habe, ein, denn diese Farbigkeit des Originals ist absolut unreproduzierbar. Das Komische ist, dass man vielleicht meinen könnte, fotografische Arbeiten sind leichter durch Fotos zu reproduzieren stimmt leider auch nicht, weil auch Format und Art der Ausarbeitung von gro?er Wichtigkeit sind. Wenn man anfängt, Originale zu betrachten, dann kommt man schnell zu der Frage, wo werden eigentlich fotografische Arbeiten benötigt, wer sind Auftraggeber oder gibt es überhaupt Auftraggeber? Wenn ich auf eine Fotografie in einer dokumentarischen Reportage schaue, dann gibt es zumeist Auftraggeber. Das Ziel ist in erster Linie nie die Fotografie gewesen, sondern ein Drittmedium. Das hei?t auch, dass diese Auftragsarbeiten im Selektionsverfahren der Redaktionen nochmals eine Transformation durchlaufen haben. Damit geht eine Versprachlichung einher. Der redaktionelle Zusammenhang bringt ein Bild, das in der Lage wäre, eine Frage aufzuwerfen anstatt eine Antwort zu geben, die es aber geben muss. Dass es daran irgendwann einen überdruss gegeben hat, hat vielleicht gar nicht so mit den Veränderungen der technischen Bedingungen des Mediums zu tun.

AS: Sie sehen eine Einengung der Bildkraft, sobald ein Bild in einen Textzusammenhang gebracht wird?

JS: Nein, ich würde nicht sagen, dass es eine Einengung ist. Der Textzusammenhang schafft natürlich eine andere Voraussetzung. In dem Moment, wo man sich inhaltlich darauf einlässt, das Verbale sozusagen zu illustrieren oder in diese Richtung zu arbeiten, verlässt man natürlich das Anarchische der Bildproduktion überhaupt.

AS: Also das hei?t, die Verweisfunktion ist immer da, man möchte im Bild noch etwas "mehr" sehen, man möchte etwas erkennen, was eine eigene Sprache spricht.
Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang: Wie wird Realität im Bild erzeugt und damit unsere Vorstellung von Realität befriedigt? Ich meine Bilder, die wir für "glaubwürdig" halten.

JS: Ein Beispiel dafür ist die Studiofotografie. Wenn man Bier zapfen würde, um es für eine Werbung zu fotografieren, hätte man ein gro?es Problem, die Frische zu erhalten. Der Schaum würde schnell im warmen Einstelllicht zusammensinken. Deswegen nehmen viele Fotografen Tee, der die richtige Farbe hat, und Eischnee als Schaumersatz und Glycerin, um das Glas zu verfrosten. Erst dieses Konstrukt funktioniert so, dass, wenn ich irgendwo ein gro? plakatiertes Glas Bier sehe, ich Durst bekomme. In dem Moment fühle ich mich vielleicht manipuliert, aber es gibt natürlich Beispiele, von denen ich mich gerne bestätigen lasse. Wenn ich beispielsweise genau die Nase, die ich nicht leiden kann, irgendwo abgebildet sehe und sage: "ganz wunderbar getroffen" oder mein eigenes Bild vielleicht auch, über das ich ganz erschrocken bin, weil ich so schrecklich darauf aussehe. Mit dem fotografischen Bild ist immer ein Versprechen verbunden, das je nach Rezipient eingelöst oder vielleicht auch gebrochen wird.

AS: Sie haben einmal gesagt, dass der Betrachter von Fotografien getäuscht werden will. Das Bier wird als solches erkannt, weil es erkannt werden will.
Was hat es für Sie mit dem Begriff der Authentizität auf sich in der Fotografie oder sagen wir allgemeiner bezüglich des Mediums "Bild"? Ist das Authentische für Sie eine Kategorie, der sich nur im Kopf abspielt oder hat das Bild selber noch einen Wahrheitsanspruch?

JS: Diese Frage führt sofort zum Autor oder der Autorin und zur Gutgläubigkeit ihnen gegenüber, die sozusagen zu den Grundvoraussetzungen des dokumentarischen Bildes gehört. Aber die Dokumentarfotografie funktioniert in dem Sinne nicht mehr. Sie ist eigentlich auch durch andere Medien überrollt worden. Z. B. ist der Film, der dann auch noch live gesendet wird, die Steigerung davon. Die Liveübertragung mit drei Kameras und einem Regisseur, das ist in der Film- und Fernsehindustrie selbst ironisiert worden, und die Generation der jetzt Mittzwanzigjährigen glaubt ja daran auch nicht mehr. Sie wird sozusagen als Teil der Spa?gesellschaft mitverkauft, sich über sich selbst lustig zu machen.

AS: Teilen Sie diese Skepsis dem Begriff des Authentischen gegenüber?

JS: Nein, aber ich glaube, dass der Begriff des Authentischen auch kommerzialisiert worden ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Bild und auch ein fotografisches Bild ein "Transportmittel" sein kann, das etwas beinhaltet, was jenseits der Versprachlichung gilt. Darin sehe ich eigentlich das wahnsinnig gro?e Potenzial der Fotografie.
In diesem Zusammenhang fällt mir ein, dass Reuters vor einigen Tagen meldete, dass dieses Jahr wahrscheinlich 5,3 Milliarden Amateursprints alleine in Deutschland hergestellt werden -- das bedeutet jede Sekunde 168 Stück. Was da drauf ist, hat mit ganz viel Wunsch und Hoffnung und auch mit Spa? zu tun. Jedenfalls wird etwas festgehalten, das nicht über Sprache, über Kontext erklärt werden kann. Man möchte natürlich gerne verstehen, warum das wirkt ich versuche, das über Bilder herauszukriegen, deswegen arbeite ich mit Bildern.

AS: Das hei?t, man kann die Realität nicht versprachlichen, sonst gäbe es ja keine Bilder. Hei?t das nicht auch, die Bilder wären Realität?

JS: Das ist eine heikle Frage. Ich könnte natürlich sagen, ich rede mich auf einen Bereich raus, der nicht angreifbar ist. Gleichzeitig versuche ich, durch meine eigene Arbeit auch Behauptungen aufzustellen, die das vielleicht zeigen können.

AS: Wir sollten dann noch auf Ihre Arbeit mit Amateurfotografien oder mit einem Fundus an vorgefertigten Fotografien eingehen. Sie haben Mitarbeiter der DG-Bank in Frankfurt gebeten, aus Ihren Alben Fotos zur Verfügung zu stellen. Diese Amateurbilder wurden dann von Ihnen weiter bearbeitet. Haben Sie damit etwas im Sinn gehabt, was im Glauben an das Bild eine Rolle spielt, den Begriff der Zeitzeugenschaft?

JS: Ja, Zeitgenossenschaft. Ich habe mehr aus Zufall irgendwann und wahrscheinlich wie viele Leute als Studenten nach Brauchbarem im Sperrmüll gesucht und auch mal ein Fotoalbum herausgezogen oder Profidias in 13/18 aus den Sechzigerjahren. Besonders interessant waren die Amateurbilder. Diese Fotos haben Menschen aufgenommen, um sich ihrer eigenen Geschichte zu versichern. Dann werden sie weggeworfen, entweder weil die Leute gestorben sind oder weil es irgendwelche familiären Veränderungen gab und damit ein bestimmter Teil der Vergangenheit auch lieber auf dem Sperrmüll landen sollte. Ich habe diese Bilder immer wieder angeschaut.
Das war zu einer Zeit, als ich mich sehr viel mit Alltag und seiner Kurzlebigkeit beschäftigt habe. In den Amateuraufnahmen fand ich diese zufälligen Bilder des Alltags. Amateurfotografien fokussieren ihr eigentliches Objekt, platzieren es in die Bildmitte, und der Rest schleicht sich dann meistens zufällig ein. Ich fing an, diese Randbereiche zu untersuchen und sie dann auch Mitte der achtziger Jahre fototechnisch zu reproduzieren. Das reichte aber nicht, um diese gro?e Privatheit, diese 'Muffigkeit' herauszukriegen. Irgendwann war es möglich, mit dem Rechner stärker einzugreifen, quasi in den Details der Fundstücke aufzuräumen. Damit begann ich dann Anfang der Neunziger. Dann habe ich sehr systematisch Amateurfotos gesammelt, schlie?lich aufgekauft. In den letzten Jahren habe ich wohl zehntausende gesehen und auch durchgearbeitet. Zwischen 10 und 15 % der Bilder wähle ich zum digitaliesieren aus, um sie anschlie?end einzeln skizzenartig am Rechner zu bearbeiten. Das ist der Grundstock, mit dem ich umgehe und den ich immer wieder sichte. Ich versuche, gerade durch das schnelle Arbeiten nah an Szenen heranzukommen. Dabei entsteht zum einen Material für meine eigene Arbeit. Zum anderen habe ich daran bemerkt, wie sehr ich mich in Zeitschichten bewege.
Es fällt auf, dass sich im Amateurbereich über die Jahrzehnte die Bildauffassung stark verändert hat. Je nach Generation wird die Frage danach, was ein gutes Bild ausmacht, anders beantwortet. Geprägt wird die Bildauffassung durch die Transportmedien. Das waren in den siebziger Jahren mehr die Magazine, dann kam das Fernsehen hinzu. Plötzlich gab es einen Input an Bildern, und die Bewertungskriterien für Bilder veränderten sich sukzessive. Das spiegelt sich bei den Amateuraufnahmen sehr stark wider, weil sie natürlich den kleinsten gemeinsamen Nenner abzubilden versuchen. Technische Probleme gibt es dabei kaum noch, weil die Automatikkameras für Standardsituationen immer brauchbarer geworden sind.
Das ist ein sehr, sehr interessanter Bereich. Deswegen auch der Begriff der Zeitgenossenschaft.

AS: Wenn ich Sie richtig verstehe, können Sie so eine Geschmackskultur im Sinne einer visuell wirksamen Kultur für eine gewisse Zeit fixieren.

JS: Geschmack ist ein problematischer Begriff, immer auf der Kippe zur Kommerzialisierung. Hochkomplex ist auch das Setzen neuer Geschmackskulturen. Stellen Sie sich vor, sie würden ein Buch über das Auftauchen von Orange und Braun in der Fotografie der siebziger Jahre machen, schon damit könnten Sie vielleicht einen Trend auslösen, der alles andere ausblendet. Das Ergebnis basiert sehr oft auf einer Idee einer kleinen innovativen Gruppe. Darauf springen dann die Medien gerne auf. Die übermittelnden Medien sind natürlich immer die "Headline" einer Sammlung. Ob das jetzt ein Artikel ist mit drei Worten oder ob das eine Headline mit einer Unterschrift ist, die dann noch was erklärt und dann vom Besonderen aufs Allgemeine kommen will in der Geschichte darunter.

AS: Sie wollen das Ergebnis der medialen Aufbereitung bewusst offen lassen, Sie lassen die Arbeiten für sich sprechen, oder?

JS: Für mich ist das Spannende immer gewesen, mich mehr und mehr von diesen Dogmen zu befreien. Nämlich zu sehen, dass es eine Gleichzeitigkeit gibt. Also nicht bewusst offen lassen, sondern eigentlich für mich mein Sehen wieder aufzubrechen, um mehrere Ideen zu kriegen. Ich verpasse ja ständig alles. Und wenn ich Glück habe, dann bin ich ein bisschen wach in dem Moment, wo ich gerade bin. Die Vermessenheit des Subsumierens, des Alles-auf-eine-Formel-Bringens birgt für mich keine gro?e Lebensqualität. Es ist eine Form von Mode. über die kann man immer kommunizieren, aber immer nur solange eine Sprachvereinbarung gilt. Doch es gibt Bilder, die seit Jahrtausenden eine Visualität haben, die immer noch Fragen offen lässt. Die den, der sich darauf einlässt, auch wirklich ergreifen können. Es ist eine Dimension, die für mich sehr wertvoll geworden ist.

AS: Würde der Begriff des "Halbzeugs", den Rolf Sachse in seinem Vortrag verwendet hat, Ihnen zusagen?

JS: Das ist nicht wirklich mein Begriff, ich finde ihn nicht unsympathisch, aber...

AS: Das Analoge und das Digitale in der Fotografie sind Begriffe, die in der Diskussion um die Authentizität von Fotografie immer wieder bemüht werden. Wie weit sind das Gegensätze, wie weit laufen diese Begriffe ineinander? Sie arbeiten selber seit gut zehn Jahren mit digitaler Bearbeitung. Sehen Sie darin eine Auflösung der Fotografie? Oder sehen Sie Fotografie als eine Form, die sich der aktuellen Techniken bedient und damit manipuliert, - denn bearbeitet wurde ja eigentlich immer?

JS: Die Fotografie selbst bedient sich ja nicht, sondern die Akteure, die die Maschine bedienen. Und ob die Maschine eine vollautomatische SLR-Kamera oder ein Computer ist, das muss nicht so ein Unterschied sein, wenn das derselbe Operateur ist, der die Maschine aus Gründen benutzt, die zu ihren Eigenschaften gehören. Ich beispielsweise kam fototechnisch einfach an die Substanz von Amateuraufnahmen nicht ran. Computertechnisch war es dann möglich. Es wäre vielleicht ein anderer Weg gewesen, in die Malerei auszuweichen, obwohl die ganz andere Bedingungen hat. Die Idee gefiel mir aber überhaupt nicht. Und wenn Sie jetzt meine Arbeit anschauen, dann fängt die bei real-analogem Material an und wechselt irgendwann in die Maschine und geht dann sehr oft wieder raus aufs Gro?bildnegativ, also auf eine andere Ebene. Ich sehe das mehr als eine technische Facette meiner Arbeit.

AS: Sie sagten, Sie wollten aus dem Ausgangsmaterial irgendwas herauslösen, was genau war das? Das Miefige, eine falsche Patina? Was genau sollte herausgelöst werden?

JS: Vielleicht das Individuelle, das auf einen ganz bestimmten Augenblick verweist, der in der Geschichte stattgefunden hat. Ich möchte etwas schaffen, was z.B. an folgende Situation erinnert: Sie kommen an einen Ort, an dem Sie noch nie waren. Sie haben einen Geruch in der Nase, den Sie ganz genau kennen und der bringt Sie drei?ig Jahre oder zwanzig Jahre zurück an einen ganz anderen Ort. Und Sie können dieses Gefühl mit Worten nicht beschreiben. Diese verdichtete Situation möchte ich visuell darstellen. Das ist der Bereich, in dem ich suche, und da stört natürlich das, was auf den einen Augenblick der Geschichte zeigt.

AS: Daher auch die Wahl des Ausschnittes, der ein Spektrum hat von der Totale, von der übersicht, vom Panorama bis hin zur Nahsicht, zum Detail. Sie arbeiten ja sehr viel mit Details oder mit Ausschnitten von Bildern. Da kann man schon einiges ausblenden, was Sie als das "Zu-Individuelle" eines Bildes begreifen.

JS: Was heute in den Vorträgen auch auftauchte, war ein flie?ender übergang von dem, was sozusagen das Bild selbst ist und was eigentlich beim Fotografieren vor der Kamera war. Dieser Unterschied wurde nicht gemacht. Für diese Differenzierung gibt es ja auch keine eindeutige Sprachregelung. Spricht man von dem, was vor der Kamera war? Ist es das, was vermittelt werden soll? Oder spricht man darüber, wie das Objekt dargestellt ist?
Das "Wie" beinhaltet ja auch die Entstehungsgeschichte eines Fotos: meine Reise als Fotograf durchs Land. Ich schaue auf etwas und transformiere es vom Dreidimensionalen ins Zweidimensionale, dabei passe ich es meinem Bildgefühl an. Der Bildausschnitt ist schon an diesem Punkt festgelegt. Und wenn ich ein Amateurfoto in die Hand kriege, dann ist der Ausschnitt ja schon gemacht.
Es geht bei meiner Arbeit mit Amateurfotos nicht darum, diese Vorlagen "zu verbessern". Sehr interessant war bei dem DG-Bankprojekt, wie die Leute reagiert haben. Sie haben mir ihr Bildmaterial zur Verfügung gestellt, weil sie nämlich sahen, dass es nicht um eine Verbesserung ging, sondern um die Transformation zu etwas anderem. Und teilweise haben sie ihre eigenen Vorlagen nicht wieder erkannt, weil natürlich die Erinnerung an ein Foto, das das Dabeigewesensein festhalten sollte, sich meist an ganz bestimmten Punkten orientiert: Eine Person steht da und im Hintergrund passiert etwas. In dem Moment, in dem diese Elemente fehlen, findet die Erinnerung ihren Ankerplatz nicht mehr.

AS: Ist für Sie Fotografie theoretisch zukunftsfähig, oder würden Sie irgendwann zur Arbeit mit dem bewegten Videobild übergehen? Ich habe das Gefühl, dass Sie mit Ja antworten werden auf die Frage, ob das Foto immer noch Wirkkraft hat und sich gegen die anderen Medien oder die Mediatisierung behaupten kann.

JS: Das Standbild hat klassische Bedingungen. Ich sehe nicht den flie?enden übergang vom Standbild zum bewegten Bild, von der Fotografie zum Video. Das halte ich für einen gro?en Schritt. Es handelt sich um zwei sehr unterschiedliche Medien, auch wenn sie thematisch dasselbe behandeln können. Ich finde zum Beispiel die Nähe zwischen Fotografie und einem anderen zweidimensionalen bildtragenden Medium viel diskussionswürdiger. In letzter Zeit taucht oft die Frage auf, ob Fotografie nicht viel mit Malerei zu tun habe. Kollegen rekurrieren auch darauf. Es ist sehr problematisch, weil au?er acht gelassen wird, was eigentlich das Spektrum und die Eigenschaft der Malerei sind, nämlich die Farbe. Fotografische Farben haben ein schmales Spektrum, das ist so erbärmlich, dass es wie mit Bleigewichten schwimmen zu gehen ist, in der Fotografie farbig zu arbeiten. Dies mit Malerei zu vergleichen, wo sozusagen aus der Fülle der Farben geschöpft werden kann, ist schon sehr fragwürdig. Ich würde dann untersuchen, in welchem Medium ich mich bewege und warum, welche Eigenschaften hat es? Um auf ihre Frage zurück zu kommen: es reizt mich nicht, auf das bewegte Bild umzusteigen.

AS: Jörg Sasse, vielen Dank für dieses Gespräch.

Andreas Schalhorn & Jörg Sasse, 2002



Das öffentliche Gespräch fand anlässlich eines Symposiums zur Dokumentarfotografie, veranstaltet von der Wüstenrotstiftung, im September 2002 in Köln statt.