Jörg Gruneberg: Was ist Ihre Definition von Dokument, welche Eigenschaften würden Sie ihm zuschreiben?
Jörg Sasse: Vielleicht ist ein
Dokument etwas, daß zeitnah als die Aufzeichnung eines Augenblicks entsteht. Der Begriff der Aufzeichnung
eröffnet hier schon etwas Wesentliches. Ein Dokument ist immer eine Transformation.
JG: Wenn ein Foto als Dokument gebraucht wird,
wird ihm danach nicht
immer
auch ein Subtext zugeordnet, damit es letztlich als Dokument Bestand
hat? Ohne Subtext, stünden da nicht viele Bilder verloren da?
JS: Das Foto als Dokument ist durch seine
Existenz zu einem Teil von
Welt
geworden, nicht mehr und nicht weniger. Ich kann eine Fotografie als
Dokument verwenden - im Verhältnis zu dem, was irgendwo vor
der Kamera war, ist das jedoch bereits die zweite Ebene. Ich halte es
für sinnvoll, den Prozeß der Entstehung
genau zu betrachten, um differenzieren zu können,
worüber wir sprechen, wenn es um "Inhalte" gehen
soll. Der "Subtext", von dem Sie sprechen, entsteht also
möglicherweise erst auf der zweiten Ebene der Transformation.
Nun könnten Sie einwenden, die Absicht, das Abbild eines
Stuhls zu erzeugen, sei völlig unkompliziert mit
fotografischen Mitteln zu erledigen. Tatsächlich
stünden wir vielleicht nachher vor einem Foto, auf dem wir mit
dem Finger auf einen Stuhl deuten. Hier benutzen wir eine sprachliche
Vereinbarung, um uns begrifflich zu verständigen. Ginge es um
das Foto eines Stuhles, der anhand einer einzigen Fotografie nachgebaut
werden sollte, zeigte sich deutlich, wie komplex und schwierig die
Transformation in ein Bild ist. Die Frage nach dem richtigen Medium
für ein "Stuhl
Dokument" drängt sich auf: Vermutlich wird man einen Bauplan
mit Materialangaben und Maßen bevorzugen.
JG: Gibt es Systeme,
Codes, die wir gebrauchen (können), um fotografische Subtexte
zu generieren und zu verifizieren/zu entschlüsseln?
JS: Selbstverständlich. Es gibt ja
sogar eine Industrie des
"schönen Scheins". Mit der menschlichen Neigung, Bilder als
Projektionsflächen zu verwenden, verdienen ganze
Wirtschaftszweige ihr Geld. Dazu gehört sicherlich auch das
Nachrichtengewerbe. Es steckt in Ihrer Frage: Inhalte werden generiert,
projiziert, um an anderer Stelle wieder decodiert zu werden. Das
Verifizieren bezieht sich hier also auf etwas, das
möglicherweise erst später dem fotografischen Bild
zugefügt wurde.
JG: Ist der Grund für den Glauben an
die Dokumenthaftigkeit,
also
die Wahrhaftigkeit der Fotografie, hauptsächlich in Sprache
und Wissenschaft zu suchen? Laut Vilem Flusser sind ja alle
Fotos zunächst Texte, die danach - über Theorien,
Formeln, Apparate - zu Bildern werden. Aus eben diesen Bildern
generiere sich dann erst die konkrete Welt.
JS: Bilder sind vorsprachlich. So wie das
Denken auch. Die Sprache ist
ein
mögliches Medium, Gedanken kommunizierbar zu machen. Zur
Verständigung bedarf es aber zweier Personen, die zu verstehen
bereit sind. Fotografische Bilder werden sehr oft in Kombination mit
Text verwendet. Das macht es schwieriger, sie zu sehen, weil der
Konvention nach ein sprachliches Verstehen als primär
angesehen wird, was ich für problematisch halte. Dabei liegt
dies frühestens in der dritten Transformationsebene, Welt
läßt sich nicht aufzeichnen. Oder wenn es mit
irgendeinem Apparat gehen würde, wären vermutlich wir
als Menschen nicht in der Lage, die Aufzeichnung zu erfassen. Ohne uns
selbst zu überschätzen, können wir
vielleicht Teile von Wirklichkeit betrachten und zu vermitteln suchen,
um darüber zu kommunizieren, was durchaus gänzlich
ohne Sprache möglich ist.
JG: Wo endet für Sie das Dokumentarische?
JS: Wenn ich an meinen obigen
Versuch einer Begriffsdefinition denke, dann ist der Moment der
Rezeption eines Bildes ein gegenwärtiger Augenblick.
Mein Verständnis von Bild hängt also stark damit zusammen,
in welchem Zusammenhang, mit welcher Stimmung oder Voreingenommenheit
ich dem Bild begegne. Es erfordert eine aktive Bereitschaft, ein Bild
als Dokument zu betrachten. Wird es unbewußt oder
einvernehmlich suggeriert, handelt es sich wohl eher um die
Verführung, etwas im Sinne des Kontextes zu glauben. Kurz, wir
sind dem "Belogen-Werden" durch Bilder grundsätzlich
in einer Nachrichtensendung ebenso ausgesetzt wie vor einem
Werbeplakat.
JG: Es gibt einen Nachrichtensender (Euronews), der sendet zeitweise
Filmsequenzen ohne gesprochenen Text (nur Ort und Datum werden
untertitelt). Die Wirkung ist für mich intensiver als bei
einem kommentierten Film.
Der "Code" Nachricht scheint hier aufgebrochen, die Phantasie, das Unterbewußtsein
bemächtigt sich zu einem Gutteil des Informationsgehalts. Ein
bekannter Effekt, der auch bei Rundfunksendungen umgekehrt
funktioniert. Offenbar wird eine Information umso interessanter, je
weniger Sinne gleichzeitig angesprochen werden. Ich will daraus keine
Regel machen, aber auf die - ebenfalls - stark irrationale Komponente,
die Sie in ihrer Arbeit ganz offensichtlich zum Klingen bringen, zu
sprechen kommen. Sie scheint beabsichtigt. Wollen oder können
sie diese Effekte genauer benennen? Im aktuellen art-Artikel (Nr.
12/2005) kann Roland Gross nurmehr einen Spleen des Künstlers
attestieren oder wie er sagt "Der Arbeitsprozeß
birgt möglicherweise Analytisches, aber der große
Rest ist klassische Künstleranarchie." In genanntem Artikel
wird nicht geklärt, worum es sich im Arbeitsprozeß
dreht. Im gleichen Artikel sprechen Sie sich aber bewußt
gegen den Geniekult aus. Kein Widerspruch?
JS: In diesem Fall ist der Interpret der Autor
des art-Artikels: Er
wäre zu befragen zum Bild, das er sich von einem
"Künstler" macht. Ich habe mich an "Künstler" als
Berufsbezeichnung ebenso
gewöhnt wie an die Bezeichnung "Kunst" für
meine Arbeit. Tatsächlich gefällt mir der Begriff
"Anarchie" im Bezug auf Bilder, nicht im Bezug auf das Tun
eines Künstlers. Ich habe an anderer Stelle gesagt,
daß es eine "Anarchie der Bilder" gibt,
eine Herrschaftslosigkeit, Unorganisiert halt, die ich für das
wesentliche Potential halte. Die Unfaßbarkeit von Bildern hat
Generationen von Herrschenden beunruhigt und immer wieder dazu
verleitet, Bilder zu instrumentalisieren. Was aber sind die Bilder
selbst, wie sehen sie aus, wenn wir uns vom "denkenden Sehen"
lösen und ein sehendes Sehen zulassen?
JG: "Sehendes Sehen" wäre demnach z.
B. in der Malerei
prozessual
organisierter als in der Fotografie...
JS: Jedes zur Bilderzeugung verwendete Medium
hat seine eigenen
Bedingungen
und Eigenschaften, die zu betrachten und zu differenzieren wichtig ist.
Doch zur Erzeugung fotografischer Bilder gehört ebenso der
Umgang mit Form und Farbe wie bei gemalten Bildern.
JG: Würden Sie
dabei Ihre Arbeitsmethode mehr in Richtung unbewußtes,
spielerisches Hantieren oder mehr als
phänomenologisch-systematisches Verfahren einordnen?
JS: Die Methoden meiner Arbeit
könnten zunächst
sinnvoll
in technisch und künstlerisch bedingte unterteilt werden. Bei
den Methoden, die der Verwendung der verschiedenen Techniken
angehören, ist es selbstverständlich überaus
sinnvoll, davon Kenntnis und die Fähigkeit zu haben, damit
möglichst präzise umgehen zu können. Bei den
Methoden des künstlerischen Vorgehens ist das ein
bißchen anders, denn es gibt aus meiner Sicht eine gewisse
Notwendigkeit, die Sprache und das Vorwissen zu hintergehen, um etwas
"passieren zu lassen". Das Reizvolle darin ist, mich selbst
im Prozeß der Arbeit in eine nicht-zielorientierte Situation
zu bringen.
JG: Die Aura des Authentischen haftet dem
Medium Fotografie
hartnäckig an. Ich denke dabei an ein Titelbild der
Zeitschrift Kunstforum (Bd. 161/2003), ein Kriegsbild. Das Makabere
daran ist der Umstand, daß dieses Foto
hochästhetisch wirkt, da ein großer und ein kleiner
roter Punkt das Bild bestimmen, also "schön"
abstrakt anzuschauen ist. Im Hintergrund sind
Militärfahrzeuge, Soldaten zu erkennen. Beim zweiten Hinsehen
spürt man sogleich das "Faktische", nämlich,
daß es sich bei den roten Punkten um Blutspritzer handeln
könnte.
Es ist im Grunde schwarzer Humor, so ein Bild zu
zeigen, zu sagen: Hier seht mal, ist das noch zu glauben? Nein, man
will das nicht, daß man aus realem Krieg lustige Abstraktion
formt. Das darf Eggleston mit einem abstraktschönen Drink in
einem Flugzeug, oder Tillmans mit den Resten einer Party ... Ist
Fotografie dem „Realen" gegenüber noch immer
verantwortlicher als beispielsweise Malerei?
JS: Eine Eigenschaft des Mediums Fotografie ist die sehr starke
Behauptung einer Referenz, also zu dem, was man vielleicht das "Reale" nennen könnte.
Nun ist's, wie wir alle wissen, mit dem "Realen" auch nicht weit her, sobald mindestens zwei
Wahrnehmende gefragt sind... Daß eine entsetzliche Situation
auf einer Fotografie zu etwas anderem wird, Iiegt ja bereits in der
technischen Transformation begründet. Hinzu kommt die
Verschiebung des Zusammenhangs. Es bleibt also nach wie vor
problematisch, ob man z.B. Brutalität oder das
"Unvorstellbare" tatsächlich in ein (fotografisches)
Bild überführen sollte. Die Gefahr ist extrem hoch,
dabei zu verharmlosen. Denn nicht nur die Erinnerung des
"Schönen", sondern auch des "Schreckens"
sind individuell erzeugte Vorstellungen, die in einer
Fremd-Visualisierung all zu oft problematisch werden.
JG: Können
technische Bilder, Darstellungen mittels technischer Bilder
über eine Allegorie auf Zustände - real oder mental -
hinausgehen? Oder ist es schon eine ganze Menge, wenn sie das
darzustellen vermögen?
JS: Schon der Begriff der Allegorie geht mir
zu weit, wenngleich Bilder
oft
so aufgefaßt werden und darin sogar ein Teil der Absicht des
Autors stecken mag. Neben diesem Gemeinten, das ich nicht in Abrede
stellen will, gibt es jenen Teil des Visuellen, der mit Sprache und
Bedeutung nicht zu fassen, dennoch sehr konkret sichtbar ist. Wenn ich
mich dem stelle, dann wird ein Bild zu einem Gegenüber. Ein
Gegenüber evoziert immer eine Selbstwahrnehmung. |