Jörg Sasse - Texte
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Das Foto ist immer wahr

Frühe Stilleben von Jörg Sasse

Manche Menschen können sich den visuellen Eindrücken des Alltags ganz leicht entziehen. „Ich konnte das nie“, sagt Jörg Sasse. „Es ist wie mit Ohrwürmern. Ich musste einen Platz dafür finden.“ Schon vor seiner Bewerbung an die Düsseldorfer Kunstakademie hatte Sasse damit begonnen Schaufensterdekorationen hinter spiegelnden Scheiben zu fotografieren. Erst in Schwarzweiß, dann in Farbe, schließlich ließ er die Spiegelungen weg. „Ich versuchte die Konzentration auf die kleinen Bühnen des Alltags zu lenken.“
Die frühen unveröffentlichten Stilleben dieses Portfolios*, die Sasse 1985 fotografierte, spielen bereits in ihrer eigenen Bühne. Profane Objekte stellen ihre visuellen Reize in einen höheren Dienst, bedienen in ihrer Dinglichkeit abstrakte Bildwirkungen. Und selbst die Farben im Hintergrund, mit denen sie in Beziehung treten, hatten bereits ein Vorleben aus dem Alltag, das sie selbstlos hinter sich ließen: „Es sind die selben farbigen Hintergründe, vor denen Thomas Ruff seine Porträts fotografierte. In der Becherklasse konnten die alle benutzen“.
ST-85-01-06, 1985 (18 x 24 cm)

Eigentlich hatte der 1962 in Bad Salzuflen geborene Künstler Bildhauer werden wollen. Doch als ihn Bernd Becher im zweiten Semester aus der Orientierungsstufe der Düsseldorfer Kunstakademie fischte, kam es anders.
Wer freilich bei dem aufgestellten gelben Plastiktrichter und seiner Sektverschluss-Krone im ersten Beispiel bereits einen Becher’schen Industrieturm ausmacht, tappt in die Kontextfalle, erfährt die Befangenheit des eigenen Blicks. Oder verrät das bunte Plastik nicht auch die ästhetischen Vorlieben jenes mittlerweile ebenfalls weltberühmten Künstlers, der damals die Düsseldorfer Anfangsemester betreute, Tony Cragg?
Da kann Jörg Sasse im Gespräch nur lachen: „Ach, gerade waren es also noch „Bechers“. Und jetzt sind es schon „Craggs“.“
Entstanden zu einem Zeitpunkt als noch niemand in der Becherklasse von der Anerkennung des Lichtbilds als Fotokunst träumen konnte, verraten die nur 18 x 24 cm kleinen Abzüge eine besondere Hingabe an das Medium. Sasse finanzierte sich das Studium als Porzellan-Packer; einen Tag Packen bezahlte eine Packung Großformatnegative. „Da konnte man sich keine zweite Belichtungs-Variante leisten.“
Für Sasse war die Entscheidung, in den vom atomaren Wettrüsten geprägten frühen 80er Jahren Künstler zu werden, auch politisch: „Ich wollte selbst dafür verantwortlich sein, was ich produziere“, erinnert er sich heute. „Es war nie in Opposition angelegt zu etwas, was es schon gibt. Natürlich stellten sich grundsätzliche Fragen wie ‚Was ist ein Bild?’Aber ich war überzeugt, das Rad neu zu erfinden, und ich wusste, wenn ich mich auf meine eigenen Erfahrungen verlasse, wird es so speziell sein, dass es sich unterscheidet.“
Gut möglich, dass Bend Becher, der vorzugsweise zu Hause unterrichtete, Jörg Sasses Stilleben nicht einmal gesehen hat: „Wenn man ihm etwas zeigen wollte, musste man ihn anrufen. Man fuhr zu ihm nach Kaiserwerth und unterhielt sich mit ihm. Und für mich war er überhaupt der erste Mensch jenseits der 40, den ich akzeptierte. Wir sprachen viel über Politik und wenig über Fotografie. Es war zwar sein Medium, aber es war nicht sein Thema.“
Kann man das auch über Jörg Sasse sagen? „Das glaube ich wohl“, räumt er ein.
Seit drei Jahrzehnten entstand ein ungewöhnlich konsistentes Werk, das – anders als man es einzelnen ehemaligen Becherschülern oft nachsagt – gerade nicht auf einen sofort erkennbaren „signature style“ setzt.
Sasses Zugang zu den visuellen Mitteilungen des Alltags übertrumpft die Fotografie in ihrem vermeintlichen Alleinstellungsmerkmal –der eben nur scheinbaren Fähigkeit, die Wirklichkeit im Abbild zu erfassen. Erst in der künstlerischen Aneignung entsteht etwas Wirkliches daraus, zum Beispiel ein Bild.
Ebenso wie Sasse später mit fotografischen arbeitete, fügt er schon die alltäglichen Fundobjekte zu einer neuen, völlig autonomen Ganzheit. Sasse, der sich bereits als Teenager mit Computern beschäftigte, gehörte zu den ersten, die in digitaler Manipulierbarkeit nicht den Unschuldsverlust sondern geradezu das Erwachsenwerden des Mediums feierten. Bei einer früheren Begegnung, 1995 im Kölnischen Kunstverein, freute sich Sasse über die Aktualität von Godards berühmtem ironischen Satz: „Fotografie ist Wahrheit. Film ist Wahrheit 24 mal in der Sekunde.“ Längst sind die damals geführten Debatten über die Wahrheitsbehauptung von Fotografie historisch. Sasse hatte sich schon als junger Student nicht mit ihnen aufgehalten. Und sie stattdessen, angeregt von Bernd Becher, an jene Punkte geführt, an denen ihre Wirkung nicht mehr nach ein paar Augenblicken endet. Schon 1995 lachte er im Gespräch: „Jetzt ist es endlich raus: das Foto ist immer wahr und zwar so, wie es an der Wand hängt.“

Daniel Kothenschulte, 2017



* Der Text erschien in der April Ausgabe 2017 der Monopol zu einem Portfolio mit 13 bisher unveröffentlichten Stillleben aus den 80ern mit frühen Stillleben.