Jörg Sasse - Texte
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Arbeiten am Bild (Wiederbetrachtungen)

Text im Begleitheft zur Ausstellung von Jörg Sasse im Artfoyer der DZ Bank, Frankfurt am Main

Das Erstaunen über die sichtbaren Dinge unserer Lebenswelt kennt gelegentlich keine Grenzen, etwa, wenn wir daran denken, dass es oftmals gerade die kleinen Irritationen sind, die unsere Sinne auf die Probe stellen. Wir wissen, dass ein Gegenstand vor uns in einem gewissen Abstand eine approximative Größe besitzt – und dass der gleiche Gegenstand in gleicher Entfernung über unserem Kopf positioniert in jedem Fall kleiner erscheint. Man kann das wissen – aber die einsetzende Vernunft kann die Irritation darüber nicht zugleich einfach fortwischen: geduldige Geister versuchen eine Art Übergangsbedeutung des Phänomens zu konstruieren – Künstlerarbeiten damit.

Auf dem Tableau 2103, 2008 ist eine Gruppe von Bergsteigern an einem Hang zu sehen. Das Bild wird fast völlig von dieser aufsteigenden Diagonale bestimmt. Das Schneetreiben scheint den Bergsteigern sehr zuzusetzen, der rechte Bergsteiger geht dennoch weiter hinauf – die linke Gruppedagegen ist als Seilschaft schon mit dem Abstieg beschäftigt. Prima vistaerscheinen jedoch beide als zusammengehörig, einer voran, die anderen hinterher.

Erst der zweite Blick zeigt, wie sie förmlich und inhaltlich auseinandergehen. War es überhaupt je eine Gruppe oder ist nicht vielmehr ein Einzelner mit seinem Aufstieg und eine Gruppe bei ihrem Abstieg zu sehen? Der Raum zwischen ihnen ist zugleich ein Zeichen für Nähe und Zugehörigkeit wie für Distanz und Entfernung. Der starke Schneesturm legt einen vorzeitigen Abstieg nahe: Ist es die Vernunft der Gruppe gegen den Willen des schon sehr müden Einzelnen? Ist der Abstieg wirklich eine Lösung, denn links wird alles zunehmend diffuser, nebliger, weißgrau, kein Tal ist zuerkennen?!

Dagegen erhebt sich über dem Kopf des Einzelnen eine Öffnung. Ein scheinbar nicht natürlicher Einschnitt im Berg, der auf ein Ende (eine Rettung?) hindeuten könnte? Was bedeuten dann aber Ende und Öffnung hier? Auch ist der einzelne Bergsteiger rechts im Bild (zumindest leicht) farblich hervorgehoben worden: wie geht das, wo doch alle gleichermaßen vom Schneetreiben überzogen werden? – Dieser ohnehin offenen Isolierung des Einzelnen steht komplementär eine geradezu versteckte weitere Isolierung gegenüber: Der äußerste linke Bergsteiger, der im Schneetreiben nur noch schemenhaft am Bildrand zu erkennen ist, bewegt sich – entgegen der Gruppe – noch oder wiederum in Richtung Aufstieg; er steht jedenfalls seinem unteren Bergkameraden direkt gegenüber. Und: Wird er wirklich nur noch vom Schneegestöber eingedeckt oder sehen wir ihn nicht vielmehrschon in der technischen Auflösung der fotografischen Vorlage, hin zum Korn eines Blow Ups? Technische und inhaltliche Bedingungen vermischen sich hier zu einer in jeder Hinsicht „unklaren“ Situation. Unsere Sinne täuschen uns in anderer Hinsicht dennoch nicht, wir sehen alles, alles ist bis zur letzten Kenntlichkeit entstellt, doch mit absurd geringer Wahrscheinlichkeit hat sich der Vorgang so abgespielt beziehungsweise könnte sich überhaupt ein Vorgang so abspielen. Es ist eine Konstruktion analog zu unserer Lebenswelt, die die aufgeworfenen Fragen prinzipiell nicht beantworten kann.

Hier berühren wir genau jene Grenze zwischen Abbildhaftigkeit und neuen Formen, die man generell als kennzeichnend für die Arbeiten am Bild von Jörg Sasse bezeichnen kann. Formen, die nicht immer mit unserer Erfahrung der Lebenswelt einlösbar sind, die aber analog zu ihr eine Beziehung der Wahrscheinlichkeit unterhalten. Mag im Tableau 2103, 2008 der erzählerisch-anekdotische Moment zahlreiche Fragen aufwerfen – letztlich sieht man etwas, für das es keinen Namen gibt. Die optische Evidenz dagegen eröffnet ein reiches Spektrum (ohne die „Geschichte“ lösen zu wollen oder können) neuer Erfahrungen, an die der Betrachter anknüpfen kann. Welche Zeitvorstellung etwa herrscht in dem Bild? Ist es nicht eine stillstehende Zeit, ein Nullpunkt im Geschehensablauf? Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft möglicherweise in eins gefasst? In unserer westlichen Kulturliegt die Zukunft immer vor uns, die Vergangenheit hinter uns. Unsere Begriffe, Bilder und Vorstellungen sind davon nachdrücklich geprägt.

Dagegen ist die Zukunft für viele andere, gerade ältere Kulturen (etwa in Mesopotamien, Ägypten, China), etwas, was hinter ihrem Rücken liegt(weil nicht sichtbar). Die Vergangenheit und die Gegenwart liegen dann vor einem, denn die sieht man, die hat man ja bereits erfahren! Gleiches gilt für die daran geknüpften Leserichtungen von links nach rechts, die den zeitlichen Rahmen unwillkürlich beeinflussen. Solche divergenten „räumlichen“ Zeitvorstellungen sind kaum untereinander vermittelbar, aber ein Bild wie 2103, 2008 von Jörg Sasse bietet nicht zuletzt die mögliche Anschauung für eine Zeiterfahrung, die es als begriffliche Formulierung noch gar nicht gibt beziehungsweise gar nicht anders als eben im Bild geben kann.

Seit 2009 hat Jörg Sasse einen Zyklus von bisher 36 Arbeiten fertig gestellt, die er unter dem Titel Lost Memories veröffentlicht hat. Sie besitzen alle die gleiche Größe (90 x 60 cm) und gehen alle von zerstörten fotografischen Vorlagen aus. Farbe und Material sind durch Schimmel und andere chemische Zerstörungsprozesse stark angegriffen. Wegen ihrer zum Teil massiven Beschädigungen kann man häufig selbst bei genauem Hinsehen kaum noch Referenzen an eine fotografierte Realität finden.

Jörg Sasse behandelte diese Vorlagen ähnlich wie Tableaus. Ihre Bildwirkung, besonders in ihrer „lauten“ Farbigkeit, ist an jeder Stelle genau kalkuliert. Der malerische Charakter tritt sogar noch ungleich schärfer hervor: Denn einerseits macht das beschädigte Fotomaterial den „fotografischen“ Hintergrund noch einmal besonders deutlich, andererseits gewinnen die Beschädigungen einen – in Farbe und Form – eigenständigen Charakter: Durch den Scan mit den ausgeblühten Beschädigungen bleiben sie nicht zweidimensionale fotografische Vorlagen, sondern werden dreidimensionale Objekte, die die hohe Schärfe im Vordergrund gegen dahinter liegende Unschärfe betonen. Im Gegensatz zu den Tableaus zeichnen sich die Lost Memories-Bilder somit nicht nur durch eine ungleich höhere Schärfe aus, sie sind auch farblich dominanter und sehr viel materialbetonter.

In diesen Werken sollte man sich als Betrachter auch nicht spiegeln dürfen –was in den Tableaus unvermeidlich und mitunter auch intendiert ist. Diesen den Betrachter „überwältigenden“ Eindruck hat Jörg Sasse für diese Serie noch einmal gesteigert, indem er seit geraumer Zeit seine Lost Memories (und generell seine aktuellen Arbeiten) nicht mehr auf Fotopapier ausbelichten, sondern selber auf professionellen Tintenstrahldruckern (mit lichtbeständigen Pigmenten) ausdrucken lässt. Der sehr viel größere Farbraum des Druckers gegenüber dem Fotopapier lässt das nahezu greifbare malerische Bild eines fotografischen Objekts nur umso deutlicher hervortreten. Paradoxerweise kehrt mit dieser äußerst malerischen Wirkung die vormalige Kontrolle des Fotografen in seiner Dunkelkammer nun bei der Herstellung der Prints auf seinem Drucker wieder zurück. Lost Memories? New Visions!

Vergessen wir jedoch nicht, dass einige an den Bildern von Jörg Sasse gemachten Beobachtungen grosso modo zum klassischen Repertoire der Malerei der Moderne gehören, und wir etwa in Bildern von Henri Matisse (1869–1954) wie Porte-fenêtre à Collioure (1914) oder Le Rideau jaune (1915) einen ähnlichen Vorgang zur Autonomisierung des bildnerischen Gegenstandes gegenüber seinem sprachlich-lexikalischen Pendant aus der Lebenswelt finden: Matisse schaltete in den genannten Arbeiten die Perspektive weitgehend aus und ersetzte die Ding-Farbigkeit zugunsten einer innerbildlich stimmigen Farbigkeit. Diese Bilder haben letztlich die Beziehung zu unserer Lebenswelt derart aufgegeben, dass das Gemeinte und Gezeigte nur noch eine Erinnerung daran ist. Das Bild bewegt sich in einer neuen Realität, deren Wahrheitsanspruch aber uneingeschränkt zu dem der Lebenswelt aufrechtzuerhalten ist. Allein die zeitgenössische Fotografie konnte sich erst mit Hilfe der digitalen Bearbeitungstechniken zu dieser Autonomisierung hin entwickeln – und mit ihrem Zusammenschluss wurden gänzlich neue Bilderfindungen möglich.

Dies schließt auch scheinbar gegenstandslose, abstrakte Kompositionen – mit zutiefst gegenständlichen Ausgangspunkten – ein, wie etwa P-93-07-04 Düsseldorf, 1993, ein Bild, das eben weder unter konstruktivistischen, noch unter einer gegenständlichen Betrachtung zu behandeln ist. Natürlich sind die aufgezeigten Phänomene auch an anderen Werken zu beobachten wie den frühen 17 Arbeiten aus dem Jahre 1994/1995 in der DZ BANK: 1654, 2795, 3024, 3502, 4262, 4328, 5127, 5263, 5636, 5673, 5744, 6237, 6882, 8087, 8684, 9961, 9982. Eine Besonderheit ist hier hervorzuheben: Die fotografischen Vorlagen kamen für die genannten Arbeiten – im Gegensatz zu allen anderen Werken Sasses – ausschließlich aus dem Kreis der Mitarbeiter der Bank. Diese Werke weisen zudem alle eine ähnliche Größe auf. Erst die später daraus entstandenen Tableaus haben individuelle Größen – zudem blieben einzelne Werke wie 1654, 5673, 6237 oder 6882 Solitäre und sind nur in der DZ BANK Kunstsammlung zu finden.

Die in 2103, 2008 bereits in der Vorstellung des „Personals“ angelegte Verwirrung des Betrachters kann in der Landschaft 8608, 1996 nur durch nähere Beschreibung gewonnen werden, denn alles scheint auf den ersten Blick in Ordnung, ist unspektakulär. Die Komposition ist außergewöhnlich präzise, nach scheinbar „klassischen“ Vorstellungen der Malerei angelegt: Der Beginn der Höhe des hinteren Gebirgszuges auf der linken Seite liegt nur wenig über der Bildmitte, und seine kleine Senkung korrespondiert direkt mit der Senkung der Wiese davor. Der vordere Höhenzug endet kurz vor der oberen rechten Bildecke. Die auffallend helle Brücke im unteren Bereich ist kompositorisch nur ein wenig neben der Mittelsenkrechten angesiedelt, und der sie umschließende Baumbestand rechts korrespondiert mit dem Baumbestand links. Durch diesen zunächst klaren und einfachen Aufbau gewinnen wir dennoch ein höchst komplexes Bild: denn im linken Bildteil sind in der Staffelung von unterer Wiese, hellem Gebirgszug und Himmel drei räumlich klar differenzierte Bereiche zu erkennen. Diese sind aber, allein vom linken Bildrand aus betrachtet, sowohl fern wie beziehungslos.

Folgt der Blick nun weiter in den rechten Bildbereich, so tritt die Landschaft näher heran – aber durch den stark ansteigenden Gebirgszug vorn verschließt sich diese Ansicht auch wieder. Das bedeutet, dass die optische Nähe der Landschaft auch ihr eigenes „Entschwinden“ erzeugt – ihre Ferne dagegen paradoxerweise einer Präzisierung unterworfen ist. Einzig die „kleine Brücke“ im unteren Bereich steht als „Reflexionsfigur“ für die reale Ferne (denn „in Wirklichkeit“ muss sie sehr groß sein) – zumal sie optisch auf der Höhe des hinteren „verschwindenden“ Gebirgszuges und Himmels steht. Nähe und Ferne vertauschen sich hier ununterscheidbar und beständig im Blick. Die Talbrücke steht so fern, gleichwohl ihre Stellung im vorderen Bildbereich eine größtmögliche Nähe einschlösse. Die nachgerade „klassische Landschaft“ erweist sich damit im Hinblick auf ihre „Bewältigung“ als äußerst tückisch; in ihr wird das Selbstverständliche zur beständigen Neuentdeckung des Unselbstverständlichen der Landschaft.

Die Werke von Jörg Sasse sind auf wiederholte Betrachtungen angelegt, um sich wirklich ein Bild von den möglichen Erfahrungen und Dimensionen der Arbeiten machen zu können: eine „zwingende“ Wahrnehmung gibt es nicht; sie sind jeweils eher „Filter“ für unsere Sinne. Bei Jörg Sasses Bildern wird im besten Sinne „hinters Licht“ geführt, und das heißt aber auch, den Bildern zutrauen, dass sie etwas haben, etwas mit dem Betrachter machen oder machen können, was mit keiner anderen Erfahrung sonst möglich wäre.

Andreas Kreul, 2013


Link zur Ausstellung