Jörg Sasse - Texte
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Vorhänge

Publiziert im Katalog zur Ausstellung im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris

Mit diesem Bildzyklus, der 1993 vorerst vereinzelt mit einem großformatigen Vorhangmotiv einsetzt, verließ Jörg Sasse die Herstellung selbst fotografierter Bilder, die stillebenartige Ausschnitte von alltäglichen Interieurs fokussierten und sich im Laufe der Zeit verstärkt von einer konkreten Gegenstandsbezeichnung lösten. Gefundene Schnappschüsse von Amateuren, zum Teil älteren Datums, dienen ihm nun als Ausgangsmaterial, das er digital bearbeitet und erst am Computer zu eigentlicher und neuartiger Bildhaftigkeit führt. Er eignet sich konventionelle Farbfotografien an, die zum Privatgebrauch anderer bestimmt - wesentlich der Erinnerung erlebter Situationen und Augenblicke dienen. "Das Gemeinte ist genau genommen nicht das, was sich auf dem Foto zeigt, sondern das, was sich vor der Kamera abgespielt hat. Mein Interesse gilt nicht dem Gemeinten, sondern dem Foto selbst. Daher befinden sich in meiner Materialsammlung überwiegend Amateurfotos, die nicht eindeutig dem Privaten verhaftet sind oder auf dem Details zu sehen sind, die sich scheinbar zufällig auf das Foto verirrt haben" (Jörg Sasse).

1546, 1993 (137 x 200 cm)Bildfundstücke werden in Kleinstausschnitte fragmentiert, einzelne Bildgegenstände herausgelöst oder verschoben, Kontraste und Konturen geschärft oder zurückgenommen, Farben verändert, bis das einzelne Werk in seiner ganz spezifischen Eigenart künstlerische Präsenz besitzt. Scheinbar realistische Abbildhaftigkeit setzt sich um in eine durch und durch fiktive Bildebene, vergleichbar mit der Entstehung eines Gemäldes, das aus lauter Pinselstrichen und -tupfern die Illusion einer Figuration aufbaut, wobei Sasses Voraussetzung nicht die leere Leinwand bildet, sondern zumeist eine Überfülle an Daten, die es zu reduzieren gilt. Eine Berglandschaft mit Almhütte oder eine Gruppe von Badenden zeugen zwar motivisch einerseits von klassischer Ikonografie, andererseits vom sentimentalen Erinnerungspotential der Fotografie, zersetzen sich aber in der Nahsicht zuweilen zu einem geradezu psychedelisch wirkenden Bildkonstrukt, das das Trügerische von fotografisch dokumentierter Wirklichkeit in unausweichlicher Art und Weise offensichtlich macht. Aber trotz hochtechnisierter Kreation schlägt dieser Akt der Desillusionierung in einen äußerst suggestiven Akt des Sehens um. Denn das im Rechner generierte, digitale Bild entfaltet ungeahnte Wahrnehmungs- und Assoziationsräume gerade in der Kluft zwischen Abgebildetem und Abbild, dem Entschwinden tastbarer Realität und der autonomen Wirklichkeit des Bildes. Der Ambivalenz, was am Bild wahr oder falsch und manipuliert sein könnte, entspricht sein Schwebezustand, erreicht durch den leichten Abstand von der Wand und seine rahmenlose Montage hinter Plexiglas.

Dieser immaterielle Bildzauber, der durch die Reproduktion im Katalog nicht wiederzugeben ist, veranschaulicht sich insbesondere an einem wenig erzählerischen Bildgegenstand, wie es ein Vorhang darstellt. 6137, 1996 (200 x 147 cm)Seine motivische Anspruchlosigkeit lässt sich denn auf einer abstrakteren Wahrnehmungsebene - gerade in der von Jörg Sasse gewählten physischen Ausdehnung der Bildformate - als ein Farb- und Formkontinuum sehen, das color field - Malerei gleichkommt oder sich in einer Koinzidenz der Materialität zu Blinky Palermos Stoffbildern in Bezug setzt. Die Macht der Farbe ist es, die hier das Zepter übernimmt und die Sinne des Betrachters einnimmt. Und doch taucht bei aller Relativierung der narrativen Bildelemente, die sich im allgemeinen durch die Aneignung anonymer Durchschnittsbilder, die das sogenannt Kreative und Originale negiert, bemerkbar macht, die Frage nach dem Vorhang als Metapher auf. Denn indirekt und wohl auch unbewußt wird das von der deutschen Romantik bis zu Matisse eingesetzte Fenstermotiv ins Spiel gebracht, das zwischen Innen- und Außenwelt, vielleicht auch zwischen Licht und nächtlicher Dunkelheit, häuslicher Geborgenheit und Ausblick auf größere, bisweilen gar metaphysische Zusammenhänge vermittelt. Man denke auch etwa an Adolph von Menzels "Balkonzimmer" (1845), in dem es nur heller Lichtschein ist, was man vom Balkon und von der Außenwelt erfährt und der den sparsam möblierten Raum durchzieht. Der duftige, leicht wehende Vorhang öffnet und verhüllt zugleich, und was er verspricht, bleibt Ahnung. Sasses Vorhänge sind von solider, gar schwerer Stofflichkeit, denen wiederum nichts von raffinierter Draperie anhaftet, um die Welt zur Bühne zu machen. Hat der früheste, grünliche Vorhang ("1546, 1993") durch seine Spiegelung im orangefarbenen Boden noch etwas von schleierhafter Subtilität an sich, führt das letzte Vorhangbild ("5061, 1996") von nah ein grobes Gewebe vor von einer geradezu ekligen Materialität. Aber in einem virtuosen Akt der Drehung sitzt nun seine kleinbürgerlich anmutende, braungraue Blende unten im Bildgeviert und überläßt einem berückenden Himbeerrot das Feld, das sich in den Verschattungen seiner Faltenwürfe Dunkelviolett höht. Der Vorhang verrät bei Sasse trotz teilweise angeschnittener Raumdetails keine Ahnung mehr von außen- oder innenliegenden Realitäten, gewährt keine räumliche Orientierung, sondern verweist ganz und gar auf das Hier und Jetzt einer bildnerischen Realität, die sich der Vorstellung des Bildes "als Fenster zur Welt" verweigert. Wird hier nicht das Bildmotiv zur Verkörperung der bloßen Erscheinungshaftigkeit fotografischer Abbilder einer Wirklichkeit, über die wir kein sicheres Wissen mehr besitzen? Und hatte nicht schon Henri Matisse in seinen Bildern "Porte-fenêtre à Collioure" (1914) und "Le rideau jaune" (1915) das reduktive Bildmotiv zum Ausgangspunkt einer letztlich das Gegenständliche überwiegenden Bildsprache gemacht, die sich aus der Beziehung von Farbe und Form nährt? Und wie steht es um Gerhard Richters Vorhangbilder in Schwarzweiß Mitte der sechziger Jahre? Widmete er sein erstes Vorhangbild dem weich konturierenden Stillebenmaler Morandi, schaffen die Nachfolgebilder tendenziell eine röhrenförmige Egalisierung und Beschneidung des Faltenwurfes. Dessen Licht- und Schattenwirkungen und ihre Schärfe- und Unschärferelationen irisieren wie die Op Art, ohne deren mechanischen Glätte anheimzufallen. 5061, 1996 (142 x 220 cm)Schon Richter zeigte den Vorhang als einen Grenzbereich, der anschaulich macht, wie unbegreiflich die Sichtbarkeit des Sichtbaren ist. Benutzte er fotografische Vorlagen, um - entgegen kunstvoller Peinture, an der Jasper Johns etwa festhielt - zeitgemäße Bilder malen zu können, schöpft Sasse aus den Möglichkeiten der digitalisierten Fotografie, die heute zur Verfügung stehen und schafft - ohne weder den Pinsel noch die Kamera in die Hand zu nehmen - so etwas wie eine neuartige bildnerische Dimension. Denn, wie schon Richter festhielt, hat der künstlerische Produktionsakt "nichts mit dem Talent des 'handgemachten' zu tun, sondern nur mit der Fähigkeit zu sehen und zu entscheiden, was sichtbar werden soll. Wie das dann hergestellt wird, hat nichts mit Kunst oder künstlerischen Fähigkeiten zu tun". Und so erhebt sich in Jörg Sasses Trias der Vorhang-Stilleben über einem metallischen Horizontalraster ein sich geschmeidig faltendes Kornblumenblau, das in satter Kühle dinglich wirkt und zugleich imaginationserfüllt in die Ferne weist ("6137, 1996").

Bernhard Bürgi, 1997


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