Jörg Sasse - Texte
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Eröffnungsrede Oldenburger Kunstverein

Meine Damen, meine Herren,
die Eröffnung einer Ausstellung zum Anlaß zu nehmen, über die Bilder zu sprechen, die sich in ihr zeigen, ist ein prekäres Unterfangen. Denn die Bilder wollen gesehen, nicht besprochen werden. Ihre Bedeutung enthüllt sich weder in gesprochener noch in geschriebener Rede, weder in Exegese noch in Kommentar. Schweigsam, wie sie von Natur aus sind, eröffnen sie zwar den Raum eines Sprechens. Doch dieser Raum ist nicht ihr eigener Raum, die Zeit des Sprechens nicht ihre eigene Zeit.
Man wird deshalb gut daran tun, nicht besprechen zu wollen, was sich da zeigt. Eher geht es darum, das Moment des Fremdartigen zu verstärken, Signaturen des Unnahbaren zu akzentuieren, die den Bildern eingeschrieben sind. Es käme darauf an, in einer paradoxen Formulierung, eine Art "Schweigen der Bilder" zu vernehmen. Es würde sich darum handeln, jene Grenzen der Bedeutung zu berühren, an denen uns ihre stumme Sprache wie eine Überraschung trifft, auf die wir nicht vorbereitet waren - oder eben auch wie ein Schock, der uns in bestimmter Hinsicht sprachlos zurückläßt.
Überraschung und Schock sind um so abgründiger, je unscheinbarer sie sich im vermeintlich Vertrauten ereignen. Wer die Arbeit Jörg Sasses verfolgt hat, der wird wissen, daß die Sphäre eines vermeintlich Vertrauten, Gewohnten, Bewohnten seit langem ihr fragiles Metier war. Leichthin, wie man zunächst meinen könnte, setzte diese Arbeit an den Oberflächen des Alltäglichen ein. Irritierend machte sie zum Thema, was uns ohnehin umgibt: die Welt der Dinge, in der wir uns einrichten, das "Interieur". Doch in dessen Oberflächen markierte sie um so subtiler Abgründe, über die der alltägliche Blick hinweggleitet. Oder eben auch: in die er abstürzt, sobald er innehält.
Machen Sie selbst die Probe auf's Exempel. Nehmen Sie sich ein alltägliches Ding vor, einen Stuhl, einen Tisch, eine Lampe meinetwegen oder einen Türrahmen - was immer Sie zu Haus vorfinden, es kann gar nicht banal genug sein, worauf Sie sich da einlassen. Denn Sie können gerade am Banalsten die Erfahrung machen, daß es in Ihren Händen, unter Ihren Blicken fremd wird; ja, mehr noch: daß es sich Ihnen entzieht und so etwas wie eine Öffnung, wie eine "Wunde" der Bedeutung zurückläßt, die sich nicht schließen will. Ein Tisch etwa verweist auf alltägliche Verrichtungen wie das Essen, das Trinken, das Gespräch oder die Arbeit, die an ihm stattfinden. Er verweist sodann nicht weniger auf Erinnerungen, die sich mit ihm verbinden, oder auf Erwartungen und Hoffnungen, die ihn einrahmen wie einen zeitlichen Horizont. Wie alle alltäglichen Dinge erzählt er uns also unendliche Geschichten. Er überflutet uns gleichsam mit einer Beredsamkeit oder auch Geschwätzigkeit, mit einer unerschöpfbaren Vielfalt aus Verweisen, die unser Fassungsvermögen geradezu überfordert.
Doch indem der Stuhl, der Tisch, die Lampe in derart unerschöpflicher Weise auf anderes verweisen, schweigen sie von sich selbst. Sie hüllen sich ein wie in ein Dickicht aus Bedeutungen. In diesem Dickicht verbergen sich die Dinge eben auch, in ihm verstellen sie sich. Was also die Dinge "selbst" ausmacht, was sie "außerhalb" der Verweisungszusammenhänge oder was sie in nächster Nähe sind, in der sie ja nicht mehr auf anderes verweisen, bleibt in all diesen Verweisen unausgesprochen. Und darin besteht das Beunruhigende: eine Art Kluft in nächster Nähe, die uns als Überraschung oder als Schock ereilt. Was da in nächster Nähe unausgesprochen oder auch unaussprechbar ist, läßt uns wie in den Abgrund einer Frage stürzen, die unauslotbar bleibt. Dieser Abgrund hat gleichsam ein Loch in die Sphäre der Bedeutungen geschlagen. Die nächste Nähe ist es, die uns fremd bleibt. Sie kann weder in Bild noch Bedeutung oder Verweis überführt werden.
Um diesen Schlag eines Nicht-Überführbaren geht es. Er fügt bestehenden Bedeutungen nicht etwa andere oder neue Bedeutungen hinzu - oder er tut dies erst im nachhinein, in "zweiter Linie". Zunächst läßt er die alltäglichen Bedeutungen an ihrer eigenen Grenze kollabieren. Im Unscheinbarsten, im Vertrautesten eröffnet dieser Schlag eine Art Wüste, in der wir im Nu die Orientierung verloren haben und uns nicht mehr auskennen. Es gibt einen Namen für diesen Verlust einer Orientierung, für diesen Zusammenbruch gewohnter Bedeutungen. Dieser Name ist unscheinbar wie das, worin er sich verbirgt. Er lautet: Augenblick.
Gewiß, nichts scheint uns vertrauter zu sein als der Augenblick. Aber etymologisch hängt der "Blick" mit dem "Blitz" zusammen. Zunächst ist der Augenblick ein Aufleuchten, ein heller Lichtstrahl, ein schnelles Glanzlicht. Der Augenblick ist also gerade nicht, was von unseren Augen ausgehen würde. Er ist das, was den Augen widerfährt wie ein Blitzschlag. Er fällt in sie ein, blendet und überfordert sie. In gewisser Hinsicht ist der Augenblick deshalb, was sich in keinem Bild erfassen, in keiner Bedeutung bergen läßt. In ihm zeichnet sich viel eher die Unmöglichkeit des Bildes ab, der Verlust der Orientierung, die Wüste der Bedeutung, die Unmöglichkeit der Erinnerung - ein Schock, der das Vertraute stürzen läßt. Auch die Bilder, die wir uns vom Augenblick machen mögen, sind diesem Sturz der Bedeutung nur nachträglich.
Die früheren Arbeiten Jörg Sasses zeigten alltägliche, vermeintlich vertraute Umgebungen, sogenannte Interieurs, Inneneinrichtungen, das "Inwendige" im Sinne einer gewissen Häuslichkeit. Deshalb hat man ihnen lange nachgesagt, dokumentarischen Charakter zu besitzen. Aber Jörg Sasse hat sich mit sehr viel Recht gegen diese Interpretation zur Wehr gesetzt. Denn eine Dokumentation liefert irgendwelche Bilder und behauptet, so oder so sei es gewesen. Die Bilder Jörg Sasses dagegen drehten sich um den Augenblick. Sie fragten also nach etwas ganz anderem als dem "So-oder-so-ist-es-gewesen". Sie fragten nach jenem sanften Schlag, jener gebieterischen Zurückweisung aller Versuche, des Augenblicks innezuwerden. Das Alltägliche manifestierte sich in ihnen als Exoterisches, das Vertrauteste als Unnahbarkeit, als Rätselhaftes, schweigsam Entzogenes, durch den Schlag des Augenblicks vom Bild Getrenntes. Dieser Schlag zittert in allen Bildern ebenso nach, wie er sich in ihnen verbirgt oder verstellt. Jörg Sasses Arbeiten fragten also, mit anderen Worten, nach dem Zittern in den Bildern, nach dem Zittern der Bilder selbst - nach dem Unterschied sozusagen, der die Bilder von sich selbst trennt.
"Was mich interessiert", sagte Jörg Sasse in einem Interview, das seinen neuesten Arbeiten gewidmet war, "ist der Punkt, an dem sich das autonome Bild an der Wand mit dem Verweis auf die gewesene Wirklichkeit trifft. Der Punkt, an dem man meint, etwas erkannt zu haben, das sich im nächsten Moment jedoch wieder entzieht."
Solche Sätze markieren, was diese künstlerische Arbeit von allem Dokumentarischen wie durch einen Abgrund trennt. Sie ruft nämlich nicht in die Gegenwart, was ihr räumlich oder zeitlich entzogen wäre. Umgekehrt: das, was sich gibt, so als wäre es gegenwärtig, erweist sich als in sich zweideutig, ungewiß und verstellt. Es entzieht sich jeder Eindeutigkeit einer Gegenwart und deshalb auch jedem Versuch einer Ver-Gegenwärtigung. Was sich am Augenblick zum Bild nicht fügen läßt, aber gleichwohl in allen Bildern wie als ihr eigener Abgrund nachzittert, zeichnet einen Unterschied nach, den die Bilder zu sich und in sich wahren. Er läßt sie nämlich selbst noch aus einem Entzug hervorgehen, der jener des Augenblicks ist. Darin besteht eine der eminenten Herausforderungen, die von Jörg Sasses Arbeiten ausgehen, und auch die tiefe Verunsicherung, die sie hinterlassen.
Denn nicht wenig steht hier auf dem Spiel. Ganze Industrien leben von dem Versprechen, den Augenblick beherrschbar zu machen, seiner inne werden, ihn "erinnern" zu können - zum Beispiel die Fotoindustrie, die eine ganze Welt der Hobbyfotografie beherrscht. Die Präsentation des privaten Fotoalbums, die Veranstaltung eines Dia-Abends oder die Vorführung des Urlaubsfilms legen bekanntlich schmerzhaft Zeugnis davon ab, wie tief der alltägliche Wunsch sitzt, den Augenblick im Bild festzuhalten. Nicht weniger aber legen diese Veranstaltungen Zeugnis davon ab, wie unendlich dieser Versuch sich immer neu verfehlen muß. Ganz so, als müsse sich das alltägliche Dasein durch die Produktion gewaltiger Bildarchive des Umstands versichern, überhaupt da zu sein, ist das private Foto eine Art millionenfachen technischen Existenzbeweises geworden, der sich mit der Uneinholbarkeit des Augenblicks nicht abfinden kann. "So ist es gewesen..." - jedes "private" Foto wiederholt beschwörerisch diese Litanei.
Deshalb ist es alles andere als eine Marginalie, gehört es vielmehr zur künstlerischen Geste der neueren Arbeiten Jörg Sasses selbst, wenn sie nicht etwa eigene Fotos zum Ausgangspunkt machen, sondern die "privaten" Fotos anderer. Auf beunruhigende Weise ist jedem "privaten" Foto nämlich anzusehen, daß es sich um ein "privates" handelt. Das "Private" umgibt alle diese Fotos wie ein stumpfer Schatten, wie ein Index, der sie alle gleichermaßen "privat" sein läßt. Und deshalb ist das vermeintlich Private zugleich ein Allgemeinstes, eine Art Reglement, in dem sich das angeblich Private selbst widerspricht, selbst unterbricht. Aber wenn dies so ist - wie könnte eine künstlerische Intervention aussehen, die eben dies kenntlich werden läßt? Die den Verlust der Intimität markiert, der im vermeintlich "Privaten" immer schon triumphiert hat?
Bereits früher hatte Jörg Sasse vorgefundene "Interieurs" zum Gegenstand seiner Arbeit gemacht. Bereits in den Arbeiten der vergangenen Jahre hatte er also auf jegliche "Inszenierung" verzichtet - wenn unter einer "Inszenierung" ein Arrangement von Gegenständen in Raum und Zeit verstanden wird, das von einem Künstler zunächst hergestellt und dann in irgendeinem Medium aufgezeichnet wird. Bereits in seinen bisherigen Arbeiten also hatte Jörg Sasse seine künstlerische Arbeit aus einer Art Selbst-Enteignung hervorgehen lassen, die sich auf vorgefundene Sujets einließ, um die künstlerische Intervention wie eine Marginalie einspringen zu lassen und das Zentrum des Vorgefundenen von dessen Rändern her abgründig zu verschieben.
In den Arbeiten, die hier in Oldenburg zu sehen sind, findet sich dieser Verzicht auf jede "Inszenierung" noch einmal radikalisiert. Denn in ihnen wird der Akt einer künstlerischen Selbstenteignung auf neuartige Weise wiederholt. Nicht mehr die alltäglich vorfindbaren "Interieurs", sondern die "privaten" Bilder anderer, die technisierten Erinnerungen, Augenblicks- und Existenzbeweise werden hier zum künstlerischen Material. Und damit wird die abgründige Frage eines allgemein, weil fotografisch-technisch gewordenen Versprechens zum Thema, den Augenblick beherrschbar zu machen, seiner innewerden, sich seiner erinnern zu können.
Gewiß, die Welt der Bilder stellt einen unüberschreitbaren Horizont dar; in ihm werden wir gehalten von Dingen, die wir sehen. Unfähig, des Augenblicks innezuwerden, bewegt sich alle Er-Innerung in Bildräumen, die sich nur an die Stelle des Augenblicks geschoben haben. Sie vertreten diesen Augenblick; aber das heißt auch: sie verbergen ihn. Die Bilder der Erinnerung sind an Grenzen postiert, die nicht in den Binnenraum der Erinnerung fallen. Sie kommen an den Augenblick nicht heran, den sie zwar erinnern wollen, jedoch nur repräsentieren können und deshalb verstellen. Nicht die dokumentarische Versicherung des "So-oder-so-ist-es-gewesen", sondern die Vertagung des Augenblicks durchquert die Bilder wie ein polyrhythmischer Spalt, der sie von sich selbst trennt.
Nicht "eigene Fotos", sondern die anderer zum Ausgangspunkt der künstlerischen Auseinandersetzung zu machen, könnte man also das erste Moment einer künstlerischen Selbst-Enteignung nennen, das sich in den Arbeiten Jörg Sasses eingeschrieben hat und mit seiner Frage nach dem Entzug korrespondiert. Ein zweites Moment der Selbstenteignung kommt hinzu. Es ist möglicherweise noch riskanter, noch überraschender und provozierender als das erste. Denn ebenso wenig, wie die Ausgangs-Fotos von Jörg Sasse stammen, handelt es sich bei dem, was Sie hier sehen, um Fotos im traditionellen Sinn. Was zunächst auf Fotonegativ und -abzug daherkam, so als wäre es die Authentizität des "privaten Moments", festgehalten von Kameras in den Händen von "privaten" Menschen in "privaten" Situationen, hat hier ein Moment der Selbst-Enteignung durchlaufen, das technischer Natur ist. Ich spreche vom Computer.
Jörg Sasse hat die Materialien, die ihm "private" Kameras produzierten, in digitale Daten aufgelöst und dadurch in eine elementar andere Medialität transferiert. Dieser Transfer scheint zunächst technischer Natur, eine Frage bloßer "Mittel" zu sein. Doch ich will im folgenden zwei Behauptungen aufstellen, die im Technischen etwas thematisieren, was keineswegs technisch ist. Vielmehr führt es ins Innere oder an die Extreme eines "Bilderstreits", den die Arbeiten Jörg Sasses unnachgiebig austragen. Und nicht zuletzt hierin dürften sie für die Gegenwartskunst von weitreichender Bedeutung sein.
Meine erste Behauptung lautet: der Bild-Transfer in den Computer, die Digitalisierung des Analog-Mediums "Foto", ist keine Operation, die sich auf der Ebene bloßer Mittel abspielt. Er berührt vielmehr eine künstlerische Fragestellung, die sich in den Arbeiten Jörg Sasses seit langem durchhält: die nach den Grenzen des Bildes. Mit dem Computer wird diese Fragestellung auch technisch in einer Weise formulierbar, die den Binnenraum dessen öffnet oder vielleicht sogar sprengt, was wir bislang "Kunst" nannten. In jeder Digitalisierung eines Fotos spielt sich nämlich zweierlei ab. Zum einen werden die Bildinformationen detaillierter, also höher aufgelöst, als dies selbst mit feinstem Fotopapier möglich wäre. Ein Pixel, ein Computer-Bildpunkt, ist kleiner als das feinste Korn lichtempfindlichen Materials. Und deshalb führt die Digitalisierung des Analog-Mediums Foto sozusagen in "Tiefen" dieses Fotos, die tiefer als das Foto selbst sind oder, wie sich ebenso sagen ließe, oberflächlicher als dessen Oberfläche.
Unmerklich fast, doch ebenso unwiderruflich spielt sich im Prozeß der Digitalisierung also eine Art Transgression des Fotografischen ab, die auf der Ebene des Fotografischen selbst stattfindet. Die deutsche Sprache ist auch in diesem Fall recht genau, wenn sie von der "Auflösung" eines Bildes sprechen läßt. Eine "hohe Auflösung" - das meint einerseits: die Details, die Feinheiten eines Bilds treten immer klarer hervor. Aber eine "Auflösung" ist zugleich ein Zerfall, ein Verschwinden und ein Vergehen. Die "Auflösung" der Bilder - das bedeutet auch, sie an einen Punkt zu treiben, an dem sie sich selbst auflösen, an dem sie den Anschein ihrer Kohärenz oder Integrität verlieren. Diese "Auflösung" führt die Bilder also einer Grenze entgegen, an der sie als Bilder sich ebenso präsentieren wie entziehen; jener Grenze oder unüberschreitbaren Kluft, die sie von einem Augenblick trennt, der Bild nicht wird, doch in allen Bildern nachzittert.
Deshalb ist die Transgression des Fotos, der Überschritt des Fotografischen auf der Ebene des Fotos selbst auch kein technischer Vorgang auf der Ebene bloßer Mittel. Er berührt die Virulenz einer künstlerischen Frage, die sich in den Arbeiten Jörg Sasses seit langem artikulierte: die nach der Unmöglichkeit, sich zu erinnern, oder nach dem Schock einer Erinnerung, der sich in den Bildern nur ereignen kann, indem er sie auflöst.
Meine zweite Behauptung lautet deshalb: wo diese künstlerische Transgression des Fotografischen etwas berührt, was an der Grenze des Bildmöglichen situiert ist, zeichnet sich etwas ab, was sich jeder technischen Beherrschbarkeit entzieht. Die immer höhere Auflösung des Bildes führt die Bilder einem Punkt entgegen, an dem sie über sich hinausweisen. Genauer noch müßte man sagen: an diesem Punkt handelt es sich um einen Riß der Bilder, um jenen Schlag nämlich, der sie nur deshalb Bilder sein läßt, weil er sich in ihnen entzieht. Ein einzelnes Pixel übersteigt alle Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung. Und die technische Möglichkeit der Computer, ein solches Pixel elektronisch in über 16 Millionen Farbnuancen zu adressieren, katapultiert die künstlerische Arbeit in einen Bereich, der selbst noch wie durch einen Abgrund vom traditionalen Begriff der Kunst getrennt ist. Denn plötzlich hat es der Künstler nicht mehr mit Farben und Formen zu tun; zunächst durchläuft seine Arbeit die Algorithmen von Programmen, aus deren Symbolsprache sich Farbe und Form erst generieren. Er arbeitet also selbst bereits in einem gewissen "Jenseits" der Bilder, das jede Bildfindung wie an einer äußersten Grenze ihrer selbst auftauchen läßt. In einer bestimmten Hinsicht arbeitet er damit "jenseits" dessen, was bisher "Kunst" hieß.
Wo sich die Bilder derart und im doppelten Wortsinn "auflösen", berühren wir oder berührt sich, was sich nicht darstellen und deshalb auch nicht beherrschen läßt. Und dies ist zutiefst berunruhigend. Unsere alltägliche Wahrnehmung will sich nämlich der Gegebenheiten, der Dinge und Umstände versichern. Und mit Fotoapparaten, deren Output die privaten Fotoalben und Bildarchive füllt, treten wir jeden Tag erneut unsere kleinen, ebenso bemühten wie aussichtslosen Versuche eines Existenzbeweises an.
Mit der sanften Präzision eines stillschweigenden Eingriffs, der aus einer ebenso künstlerischen wie philosophischen Sensibilität rührt, unterläuft Jörg Sasses Computer-Transfer solche Techniken einer Versicherung und Selbstversicherung des Augenblicks, der Erinnerung und der Existenzbeweise. Indem er auf der technisch kleinsten Ebene, jener des Pixels, die trügerischen Indizes des Privaten aus den Fotos herauslöst, exponiert er die alltäglichste Erfahrung einer Fremdheit, die ebenso abgründig wie schutzlos macht. Er attackiert die alltägliche Wahrnehmung also nicht etwa "von außen". Er konfrontiert sie nicht mit Schocks, die das Phantasma der Innerlichkeit durch Ungeheuerlichkeiten aufstören. Er setzt im vermeintlich "Innersten" des Privaten selbst ein und zeigt, daß es sich selbst äußerlich und fremd bleibt - zieht man die allgemeinen Reglements ab, durch die das Private sich gleichsam vor sich selbst schützt.
In den vergangenen Jahren haben wir viele Beispiele sogenannter "Computerkunst" gesehen. Meist handelte es sich um Exponate, die mit dem technischen Faszinosum spielten. Staunend ließen wir uns vorführen, wozu diese Maschinen in der Lage sind und zu welchen Effekten sie taugen. Aber wenn uns bei all dem ein Gefühl des Überdrusses nicht verließ, dann deshalb, weil es sich meist um bloße Arrangements von Effekten handelte, mit denen man uns heimsuchte, um ein technisches Spektakel also.
Jörg Sasses Arbeiten dagegen dürften zu jenen Experimenten der Gegenwartskunst gehören, in denen das Problem, vor das uns diese Maschinen stellen, mit der fälligen Ernsthaftigkeit und vor allem ästhetischen Gültigkeit aufgeworfen wird. Denn worin besteht dieses Problem? Darin, daß in die Welt der Bilder etwas einbricht, was nicht von der Art der Bilder ist; was jedoch in ihrem Innern immer schon als Riß der Bilder verborgen war.
Riß der Erinnerung, Riß der Zeit, Entzug des Augenblicks: was auf einer technischen Ebene als Gegensatz zwischen analogen Medien wie der Fotografie und digitalen Medien wie dem Computer erscheint, führt nur in unsere eigene Unmöglichkeit zurück, des Augenblicks innezuwerden, uns seiner erinnern zu können. Diese Unmöglichkeit ist gewiß schockierend. Und doch ist sie das, was uns immer schon das Vertrauteste ist. Sie beschreibt nämlich, was uns als Fremde ausweist, was uns in nächster Nähe bis zur Schutzlosigkeit exponiert sein läßt.
Ich denke, daß die Arbeiten Jörg Sasses diese Schutzlosigkeit mit einer Intensität nachzeichnen und befragen, die uns aufstört. Darin dürfte die Aura dieser Arbeiten bestehen, und mit diesem Hinweis will ich schließen. Die Aura der Werke ist, einem Wort Walter Benjamins zufolge, die "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag". Bekanntlich hatte Benjamin angenommen, daß die technische Reproduzierbarkeit der Werke durch Film, Fotografie oder Tonträger eine Zertrümmerung, einen Zerfall der Aura nach sich ziehen würde. Und gewiß müßte man mit großer Geduld die theologischen Implikationen befragen, die Benjamins Geschichtsphilosophie durchziehen, um auch die Implikationen dieser Annahme ermessen zu können.
Doch wird man wohl eingestehen müssen, daß sich eine andere Aura um die Reproduktionen gebildet hat: eine Unnahbarkeit, Einzigkeit und Ferne, die im Innersten des Technischen selbst wie die Signatur unserer eigenen Frage haust. Auratisch nämlich ist jene Ferne, die sich in einem Bildriß nächster Nähe abzeichnet, den die Technik nur manifest macht. Auratisch ist jenes Ausgesetzt-Sein, in das uns der Riß der Bilder verweist oder entläßt. Auratisch ist jene einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag, die Schutzlosigkeit heißt und unseren Namen trägt. Sie überfällt uns, sobald den Bildern das Phantasma des Privaten entzogenen wird, sobald ihnen also die trügerischen Sicherungsinstanzen extrahiert werden, die den Augenblick verstellen und das Trugbild der Erinnerung erscheinen lassen.
Im Nu stürzen wir dann in eine Unsicherheit, eine Sprachlosigkeit und Erinnerungslosigkeit, die nah am Augenblick selbst sein dürfte - sofern er wie ein Blitz ist, der zum Bild sich nicht fügt.
Wie in unendlicher Distanz zu sich selbst verharren dann die Bilder, zitternd und stark in äußerster Schwäche: kohärent genug, um zu bestehen, doch kohärent gerade auch im Zerspringen ihrer Kohärenz. Vielleicht als bloßes Bild eines Bildes, das sich im schwebenden Einspruch gegen sich selbst dem bilderlosen Augenblick öffnet - ihn erwartend und zulassend, zu nah und deshalb unerreichbar fern.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Hans-Joachim Lenger, 1995


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